Samstag, 26. Dezember 2009


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Die sozialistische Operette


Verglichen mit den im Machtbereich der ehemaligen UDSSR viel gespielten Opern von Tschaikowsky, Mussorgsky, Prokofjew und Schostakowitsch, die ernste Themen, dramatische Konflikte und Stoffe aus der russischen Geschichte behandelten, führte die Operette in Russland und noch mehr in der Sowjetunion ein Schattendasein. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts standen in Russland aus dem großen Repertoire der deutsch-österreichischen Operette fast ausschließlich die Walzer und Polkas von Johann Strauß und seiner Brüder hoch im Kurs. Mehrere Konzerttourneen führten den Wiener Walzerkönig bis nach St. Petersburg und seine Operette Die Fledermaus wurde bereits ein Jahr nach ihrer Uraufführung 1875 zum ersten Mal in Russland gezeigt. Und auch Franz Lehárs Welterfolg Die lustige Witwe wurde in St. Petersburg bereits 1906 gespielt. Insgesamt zeigte sich Russland mit seiner auf den reichen musikalischen Traditionen des Landes basierenden Musikkultur aber der in Deutschland und Österreich beliebten Operette nur wenig aufgeschlossen. Im Gegenzug blieben die russischen komischen Opern, die in ihrem Charakter der Operette entsprachen, auf den deutschen Bühnen weitgehend unbekannt.

Die Kunst dem Volke

Die Oktoberrevolution war in Russland ein einschneidendes Ereignis, das grundlegende Veränderungen auch im Theater nach sich zog. Lenin formulierte die Marschrichtung, die auch für das heitere Musiktheater galt: „Die Kunst gehört dem Volke. Sie muss ihre tiefsten Wurzeln in den schaffenden Massen haben.“ Die Errungenschaften und Utopien des Sozialismus sollten sich auch auf den Bühnen widerspiegeln. Doch das Proletariat wollte auch unterhalten werden. Aber die Operette aus Westeuropa galt als rückständig, da sie mit ihren flatterhaften Geschichten um fesche Grafen und hübsche Baronessen die hohle Scheinwelt des Adels zeigte, mit der man in Russland 1918 tüchtig abrechnete. Im Ringen um den Aufbau einer fortschrittlichen Gesellschaft wurden in einem ersten Schritt zur Schaffung einer sozialistischen Operette heitere Bühnenwerke aus dem kapitalistischen Ausland in ein politisches Korsett gezwängt und umgearbeitet. Rose-Marie von Friml wurde in einen Kampfgesang gegen Rassendiskriminierung verwandelt, Die Bajadere von Kálmán in eine Geschichte aus dem indischen Befreiungskrieg gegen die Briten umgedichtet und Der Zigeunerbaron von Strauß in einer ‚entmilitarisierten‘ Fassung gespielt. Es war zudem das erklärte Ziel der sowjetischen Kulturpolitik mit eigenen Werken ein eigenständiges Repertoire von Operetten zu schaffen, die mit der sozialistischen Weltanschauung konform waren. Otto Schneidereit schrieb dazu, als in der Nachkriegszeit auch in der DDR eine sozialistische Formgebung der Operette diskutiert wurde: „Das Leben ist vielfältig und schön. Ist das auch die Operette? Spiegelt sie wirklich das Leben wider, seine Gesundheit, seine Echtheit? Nein, sie spiegelt gemeinhin nur noch wider, wie Lehár und Raymond das Leben sahen. Diese Operette hat keine Zukunft. Sie bleibt der künstlerische, geschmackliche, politische, der letztlich kleinbürgerliche Kompromiss.“

Tanzende Matrosen

Die Forderungen der sowjetischen Kulturbehörden nach Schaffung einer ‚proletarischen Operette‘, hinter deren propagierter Lebensfreude sich eine schreckliche Wirklichkeit von Unterdrückung und Ausgrenzung abspielte, erfüllten zunächst drei Werke aus den Dreißigerjahren: Hochzeit in Malinowka (1937) von Boris A. Alexandrow, Das goldene Tal (1937) von Isaak Dunajewskij und Am Ufer des Amur (1939) von Matwei Blanter. Der Fortschritt gegenüber den Werken von Franz Lehár und Emmerich Kálmán wurde darin gesehen, dass hier zeitgenössische, dem Publikum nahestehende Themen gewählt wurden. In diesen von staatlicher Seite bei den Komponisten in Auftrag gegebenen Operetten, die Optimismus in den sozialistischen Alltag bringen sollten, waren die Gestalten und Situationen aus dem Leben gegriffen. Musikalisch zeichnete sich der neue Typus der sozialistischen Operette durch einen stilistischen Charakter aus, der einfache, dem Volkslied nahestehenden Romanzen und federnde, schnelle Marschrhythmen bevorzugte. In diesen Werken bevölkerten Komsomolzen und Matrosen die Operettenbühne, der böse Gegenspieler war ein finsterer Klassenfeind, statt den Champagner im Walzertakt zu preisen sang der Chor voller Begeisterung ein Loblied auf den neuen Traktor. Selbst das Liebespaar musste sich durch eine patriotische Handlung kämpfen.

Freier Wind

Zu den bekanntesten sowjetischen Operettenkomponisten gehörte Isaak Dunajewskij (1900 - 1955). Er leitete nach einer Tätigkeit als Dirigent am Moskauer Satirischen Theater von 1936 bis 1948 das Gesangs- und Tanzensemble des Kulturhauses der Eisenbahner in Moskau. Bekannt wurde er durch die Filmpartitur zu Fröhliche Jugend (1934), und einige Takte aus dem „Lied von der Heimat“, das er für die Filmoperette dem Zirkus (1936) komponiert hat, wurden das Pausenzeichen des sowjetischen Rundfunks. Auch seine 1947 in Moskau uraufgeführte heldenmütige Operette Freier Wind entsprach den Forderungen nach zeitgeschichtlichem Hintergrund und gesellschaftlicher Nähe. Hier war es zwei Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs der Kampf verschiedener Länder in Nordafrika wie Libyen, Algerien und Tunesien gegen die Kolonialherrschaft. Die Handlung von Freier Wind spielt in einer nicht näher bezeichneten Stadt am Mittelmeer, deren Bewohner diese Freiheitsbestrebungen mit großem Interesse verfolgen und in den Kampf für Freiheit und gegen einen Faschisten eingreifen. Freier Wind war der Versuch, ein heroisch-vaterländisches Thema für die Operette aufzubereiten, in dem aber auch ein verhinderter, schließlich vollzogener Liebesbund eine Rolle spielt, denn auf eine Liebesgeschichte wollte auch das sowjetische Operettenpublikum nicht verzichten. Freier Wind gilt historisch betrachtet als gelungenes Beispiel, politischen Anspruch und unterhaltsame, massenwirksame Funktionen zu vereinigen. Kurt Günter schrieb in ‚Theater der Zeit‘ aus Anlass der ostdeutschen Erstaufführung am Volkstheater Rostock 1953: „Es sind eben Menschen, die zugleich kämpfen und lachen verstehen. Wie hier ein politisch so wichtiges Thema heiter gestaltet wird, kann beispielhaft für unser dramatisches Schaffen sein.“

Sowjetischer Jazz

Doch nicht nur die Operette wurde auf sozialistische Ansprüche hin getrimmt, sondern auch eine andere Form der Unterhaltungsmusik, die seit den Zwanzigerjahren in ganz West- und Osteuropa Furore machte. Weil der Jazz als Musik der unterdrückten schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten galt, konnten die schrägen Rhythmen in der noch jungen Sowjetunion Gehör finden und entsprachen auch dem Wunsch der Bevölkerung nach unkomplizierter musikalischer Unterhaltung. Selbst ein entschiedener Neutöner wie Dimitri Schostakowitsch (1906 - 1975) beschäftigte sich mit den musikalischen Formen des Jazz. Bereits während seiner Studentenzeit besuchte er Konzerte in Moskau gastierender Jazzmusiker wie Leonid Utjossow und sein „Tea Time Ensemble“. Der Jazz wurde in der Sowjetunion als ein Überbleibsel bourgeoiser Kultur und Dekadenz allerdings auch mit Misstrauen betrachtet. 1934 erklärte sich Schostakowitsch zur Mitarbeit in einer offiziellen Jazz-Kommission bereit, deren Zielsetzung es war, den sowjetischen Jazz auf ein Niveau zu heben, das sozialistischen Ansprüchen genügte. Schostakowitsch schrieb 1934 eine dreisätzige Suite für Jazzorchester Nr. 1, gefolgt von der Suite Nr. 2 im Jahr 1938. Diese Suiten für das neugegründete Staatliche Jazzorchester zeichneten sich durch eine brillante und gewitzte Orchestrierung aus und stehen eingängiger Filmmusik näher als dem Jazz amerikanischer Prägung, wobei vor allem der Walzer aus der 2. Suite großen Anklang fand.

Pathetische Hymnen

Nach der satirischen Oper Die Nase (1927) und der Tragödie Lady Macbeth von Mzensk (1930) begann Schostakowitsch 1932 mit der Arbeit an Der große Blitz, um seinen Beitrag zum unterhaltsamen Musiktheater im Sozialismus zu leisten. Schostakowitsch meinte dazu: „An populären Kompositionen ist nichts Schlechtes und erst recht nichts Gefährliches. Ich finde, dass ein Komponist seine Kräfte in jedem Fach erproben sollte. Auch Mozart und Beethoven haben leichte Stücke geschrieben, und niemand verübelte es ihnen.“ Das Thema der nicht vollendeten Operette Der große Blitz, wobei der Blitz im Sinne von Erleuchtung zu verstehen ist, war der Klassenkampf im Westen, den Schostakowitsch bereits 1929 in seinem Ballett Das goldene Zeitalter mit den Abenteuern einer sowjetischen Fußballmannschaft in einer westeuropäischen Industriestadt beschrieb. Diesmal waren es die Erlebnisse einer sowjetischen Delegation, die im kapitalistischen Ausland aber allen Verlockungen widersteht. Schostakowitsch zog im Großen Blitz mit der Verarbeitung russischer Volkslieder, wilden Jazzrhythmen und hymnenartigen Chorsätzen alle Register seines kompositorischen Könnens. Dennoch brachte er die Arbeit nicht zu Ende, weil er sich nicht mit dem Libretto anfreunden konnte, das auf pathetische Weise schließlich sogar die amerikanisch-sowjetische Freundschaft beschwor. Nach dem Tod des Komponisten fand der Dirigent Gennadi Rosdestwensky neun fertige Nummern im Nachlass von Schostakowitsch, die 1981 in Leningrad erstmals öffentlich aufgeführt wurden.

Musikalisch-ästhetische Erziehung

Im Gegensatz zu Sergej Rachmaninow, der in der Sowjetunion als Abtrünniger galt, gehörte der Komponist Dmitri Kabalewskij (1904 - 1987) zu den in der UDSSR mit vielen Preisen ausgezeichneten Komponisten. Als ‚Verdienter Künstler der UDSSR‘ schuf er Opern und Orchesterwerke, wirkte ab 1952 als Sekretär des Komponistenverbands und leitete ab 1962 auch die Kommission für musikalisch-ästhetische Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Kabalewskij bevorzugte im orchestralen Bereich melodisch-gesangliche Weisen und den effektvollen Einsatz verschiedener Soloinstrumente. 1940 komponierte Kabalewskij eine heitere Suite als Einlage in das Schauspiel Der Erfinder und der Komödiant des russischen Schriftstellers Maxim Daniel. Aus dieser Komödianten-Suite für kleines Orchester erfreute sich der Galopp in einer Mischung aus Humor und Gewandtheit großer Beliebtheit.

Aufbau des Sozialismus

Auch Boris A. Alexandrow (1899 - 1974), dessen Vater Alexander Alexandrow die sowjetische Nationalhymne komponierte, gehörte zu den in der Sowjetunion etablierten Komponisten. Mit zwölf Soldaten der Roten Armee gründete Alexandrow in Moskau 1928 den ersten Soldatenchor der jungen Sowjetunion. Daraus entstand in den folgenden Jahren das Gesangs- und Tanzensemble der Roten Armee, für das Alexandrow als musikalischer Leiter Song of the Youth/Das Lied der Jugend komponierte. Er schuf neben Sinfonien, Konzerten und Kammermusik auch sechs Operetten, darunter 1937 die in Russland volkstümliche gewordene Hochzeit in Malinowka. Die deutsche Erstaufführung fand 1960 an der Staatsoperette Dresden statt. Die Handlung spielt in einem Dorf in der Ukraine, wo sich kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Bewohner eine friedliche Kolchose aufbauen. Die Hochzeit zwischen Jarinka und Andreijka wird gestört, als zarentreue weißrussische Soldaten in die Idylle einbrechen. Schließlich werden sie von der Roten Armee in die Flucht geschlagen und dem Aufbau des Sozialismus steht nichts mehr im Weg.

In der grünen Vorstadt

Oft genug stand Dmitri Schostakowitsch mit seinen Werken im krassen Widerspruch zu den sozialistischen Forderungen nach einer ‚Musik für das Volk‘, aber er verstand es immer wieder, sich mit den Machthabern zu arrangieren, ohne seine Ideale zu verraten. Als weiteren Beitrag zur sozialistischen Operette schrieb Schostakowitsch die 1959 in Moskau uraufgeführte musikalische Satire Moskau-Tscherjomuschki. Das Werk zeichnet sich durch große Frische, Wohlklang und Humor aus. Die heitere Musik, die sich leicht einprägte und sowohl die großen Meisterwerke der russischen Komponisten parodierte als auch Anklänge an Lehár und Jazz enthielt, wurde in der Sowjetunion rasch bekannt. Mit hintergründiger Ironie und einer Prise Romantik erzählte Schostakowitsch in Moskau-Tscherjomuschki von den Fortschritten des real existierenden Sozialismus. Als das Haus der Fremdenführerin Lidotschka wegen Baufälligkeit einstürzt, ist sie berechtigt in eine Neubauwohnung im Moskauer Vorort Tscherjomuschki einzuziehen. Doch die Träume vom Leben in der grünen Vorstadt sind schnell verflogen, als sich ihr der schikanöse und korrupte Hausverwalter Barabaschkin in den Weg stellt. Zwischen verschwundenen Schlüsseln, nicht existierenden Eingängen und undichten Fenstern entspinnt sich eine musikalische Persiflage, die Missstände der russischen Gesellschaft aufs Korn nahm. Als die anderen Mitbewohner Lidotschka aber bereitwillig helfen, steht ihrem Lebensglück im kommunistischen Alltag nichts mehr im Weg.

Klassenkampf im Fischkombinat

In Schostakowitschs Operette Moskau-Tscherjomuschki erfüllte sich die Forderung der sozialistischen Machthaber nach Lebensnähe und Realität im heiteren Musiktheater. Zeitgleich forderte auch Otto Schneidereit für die Operette in der DDR: „Aus der Operette des Bürgertums muss die Operette der Arbeiterklasse werden. Sie hat keine Zukunft, wenn sie in Pflege und Neuproduktion das bisherige Allerweltsprodukt bleibt. Sie hat eine Zukunft, wenn sie wird, was ihr eigentliches Wesen ist: in der musikdramatischen Satire der Angriff gegen die Gesellschaftskrankheiten, im Singspiel die große und schöne Darstellung des Gesunden.“ Aber die Zuschauer in den sozialistischen Ländern liebten diese Propaganda-Operetten nicht, die im Auftrag der Kulturbehörden eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zuständen führten. Die Theaterbesucher sehnten sich weiterhin nach Wiener Walzerträumen im Dreivierteltakt - und nicht nach Klassenkämpfen im Fischkombinat an der Ostsee.