Donnerstag, 12. August 2010

Franz Lehár WIENER FRAUEN



Franz Lehár war zweiunddreißig Jahre alt, als 1902 am Theater an der Wien mit "Wiener Frauen" seine erste Operette uraufgeführt wurde. Sie war ein großer Erfolg und die Melodien des ungarischen Komponisten wurden überall in Wien gesungen und gepfiffen.

Zackige Märsche

Geboren wurde er 1870 in Ungarn als Sohn eines Militärkapellmeisters. Nach einem Studium am Konservatorium in Prag führte ihn sein erstes Engagement als Geigenspieler in das Orchester des Opernhauses in Elberfeld, das heutige Wuppertal. In der deutschen Theaterprovinz hielt er es nur wenige Monate aus, wurde kontaktbrüchig und trat in Österreich seinen soldatischen Dienst in einer Militärkapelle unter der Leitung seines Vaters an. 1890 wurde Franz Lehár als jüngster k.u.k. Militärkapellmeister in das ungarische Losoncz versetzt. In dieser Zeit entstanden eigene Märsche, Lieder und Walzer wie Auf hoher See und Es duften die Blüten. Lehár komponierte eine Oper, doch "Kukuska" wurde 1896 in Leipzig ohne Erfolg uraufgeführt. Ihr Schöpfer setzte enttäuscht seine Laufbahn als Militärmusiker fort, die ihn 1901 nach Wien führte. Er übernahm dort die musikalische Leitung des 26. Infanterieregiments ‚Großfürst von Rußland‘ und spielte bei Promenadenkonzerten und in Kaffeehäusern zum Tanz auf.

Auf der Eislaufbahn

Sein Aufstieg zu einem der erfolgreichsten Bühnenkomponisten seiner Zeit gestaltete sich anekdotenreich. Im Winter 1901 drehte die zwölfjährige Felicitas, Tochter des bekannten Wiener Operettenlibrettisten Victor Léon, der mit dem Text zum Opernball von Heuberger erfolgreich gewesen war, ihre Pirouetten zur Musik von Franz Lehár und seiner Militärkapelle auf einer Eislaufbahn im Wiener Stadtpark. Besonderen Gefallen fand der Backfisch am Marsch Jetzt geht’s los! und Felicitas lag ihrem Vater in den Ohren, für den begabten Musiker einen Operettentext zu schreiben. Victor Léon erinnerte sich 1930 in einer Festschrift zu Lehárs 60. Geburtstag an den aufgeregten Bericht seiner Tochter: „Ich sag dir, Papa, der Marsch...also der ist einfach gottvoll, himmlisch, totschick! Ich sag dir, die Leute sind verrückt auf den...In allen deinen Operetten ist nicht ein Marsch, der so, sagen wir, comme il faut wäre, wie der. Komm doch einmal auf den Eislaufplatz und hör ihn dir an!“ Aber Victor Léon hatte keine Lust, sich Schlittschuhe anzuschnallen und so verhallte der Wunsch seiner Tochter zunächst unerhört. Inzwischen hatte Lehár neben seiner Tätigkeit als Militärkapellmeister damit begonnen, in Wien seine Karriere als Bühnenkomponist voranzutreiben. Bescheiden fing er mit drei Vorspielen zu der dramatischen Bearbeitung Fräulein Leutnant von Arthur Kohlhepp an, eine historische Begebenheit aus „Österreichs Ruhmestagen“. Danach schrieb Lehár ein einziges Duett für das Libretto "Die Kubanerin", brach die Arbeit ab und erwarb stattdessen die Rechte an dem Operettentext Die Spionin, dessen Vertonung er ebenfalls nicht beendete, wenn auch jeweils eine Nummer aus beiden Fragmenten in die Partitur zu "Wiener Frauen" übernommen wurde.

Bunte Revuen

Sein Debüt auf den Brettern, die die Welt bedeuten, geschah dann unter denkwürdigenwürdigen Umständen. Am 16. November 1901 wurde im Theater an der Wien ein buntes Programm gezeigt. Felix Salten, der begabte Dichter so unterschiedlicher Werke wie das Kinderbuch "Bambi" und "Die geheimen Memoiren der Therese Mutzenbacher" hatte das Theater gemietet. Gespielt wurde eine Wiener Version seines Überbrettels unter dem Titel "Zum lieben Augustin", eine bunte Revue mit Tänzen, Liedern und kurzen parodistischen Szenen. Mit von der Partie war auch Frank Wedekind, der Bänkellieder zur Laute vortrug. Dazwischen war ein Duett von Franz Lehár platziert, das dieser auf einen Text des Romanciers Rudolf Hans Bartsch vertont hatte. Die Nummer "Der windige Schneider" erzählte in einem heiteren Wechselgesang zwischen einem Landstreicher und seiner Gefährtin von einem Schneider, der seine Schere verloren hatte, worauf er vom Winde verweht wurde. Den gewünschten Durchbruch als anerkannter Komponist brachte die musikalische Szene trotz der Kostüme des Wiener Jugendstilkünstlers Koloman Moser nicht.

Gold und Silber

1901 hatte Franz Lehár für den temperamentvollen Paulinen-Walzer bei einem Wiener Faschingsball allerdings Sonderbeifall erhalten, und die Widmungsträgerin Fürstin Pauline Metternich erteilte ihm den Auftrag für einen weiteren Walzer. "Gold und Silber" wurde zu Lehárs erster Komposition, die ihn über den Status des hoffnungsvollen Talents hinaushob. Dadurch erinnerte sich Victor Léon an das Idol seiner Tochter und bot ihm das Libretto zur Operette "Der Rastelbinder" an, das von Lehár sogleich vertont wurde. Doch leider zeigte sich zunächst kein Theater bereit, das Werk aufzuführen. Inzwischen hatte Wilhelm Karczag 1902 die Direktion des Theaters an der Wien übernommen und war für die Uraufführungsstätte der Fledermaus auf der Suche nach Novitäten. Nachdem Lehár im Februar 1902 bei einer Wohltätigkeitsmatinee im Theater an der Wien aus Anlass der Goldenen Hochzeit von Rainer und Marie von Österreich mit seiner Militärkapelle mitgewirkt hatte, wurde Lehár von Karczag als Kapellmeister und Hauskomponist an das Theater an der Wien engagiert. Allerdings musste Lehár sich verpflichten, in seiner ersten Operette eine Partie für Alexander Girardi zu schreiben, der damals größte Star am Wiener Operettenhimmel. Er hatte in zahllosen Uraufführungen wie "Der Vogelhändler" und "Der Bettelstudent" mitgewirkt und wiederholte zu Beginn der Karczag-Ära am Theater an der Wien als Zsupan in "Der Zigeunerbaron" einen seiner allergrößten Erfolge.

Der Schlüssel zum Paradies

Das Libretto zu Lehárs Operettenerstling "Wiener Frauen" dichteten die Volks- und Bühnenschriftsteller Ottokar Tann-Bergler und Emil Norini nach dem französischen Schwank Der Schlüssel zum Paradies. Nachdem die Proben zur Uraufführung begonnen hatten, kam es zu einer Auseinandersetzung. Lehár hatte dem Musiklehrer Johann Nechledil eine zündende Nummer zugedacht, der so genannte Nechledil-Marsch, der sich bereits in der Ouvertüre musikalisch ankündigt. Gleich bei den ersten Proben erkannte Girardi als Willibald Brandl die Wirkung dieser Komposition und reklamierte sie für sich. Der junge Darsteller des Nechledil, Oskar Sachs, war froh, überhaupt in diesem illustren Ensemble mitzuwirken, das noch Lisa Abarbanell als Claire und Karl Meister als Philippe aufbot, und verzichtete auf seinen Anspruch. Lehár stimmte zu und schrieb 1930 rückblickend über Alexander Girardi und seine Interpretation des Nechlidil-Marsches: „Es war auf einer Probe, als Girardi ihn so hinreißend vortrug, dass ich – heute darf ich es sagen – zu Tränen gerührt war.“

Eingängige Walzer

Bereits wenige Wochen nach der Uraufführung am 21. November 1902, bei der Lehár am Pult stand, konnte die 50. Aufführung der "Wiener Frauen" gefeiert werden. Wilhelm Sterk schrieb darüber in der ‚Wiener Allgemeinen Zeitung‘: „Auf dem Gebiet der Operette ist Herr Lehár eine herzlich zu begrüßende Erscheinung; nach langer Pause wieder ein Musiker, der Operetten zu schreiben versteht.“ Er bezog sich dabei vor allem auf das Walzerlied der Claire „Schreit‘ ich durch die eig’nen Räume“ und den Nechledil-Marsch. In beiden Nummern kündigten sich sowohl Lehárs Begabung für eingängige Walzer als auch für mitreißende Marschmusik an. Gemessen an den Aufführungszahlen war die zweite Lehár-Operette "Der Rastelbinder", die einen Monat nach der Uraufführung der Wiener Frauen am Carl-Theater ihre Weltpremiere erlebte, ein größerer Erfolg.

Erfolg in Amerika

Lehárs nachfolgende Operette "Der Göttergatte", eine freie Adaption des Amphitryon-Stoffs, kam 1904 am Carl-Theater heraus, ohne sonderlich zu gefallen, und auch die Aufnahme der Operette Die Juxheirat im Theater an der Wien im selben Jahr brachte Lehár eine Enttäuschung, trotz der erneuten Mitwirkung von Alexander Girardi. Und schließlich folgte der erste große Triumph seiner Karriere. Am 30. Dezember 1905 öffnete sich im Theater an der Wien der Vorhang zur Welturaufführung der "Lustigen Witw"e und erstmals wurden die unvergänglichen Melodien „Lippen schweigen, s’flüstern Geigen“ und „Da geh ich zu Maxim“ angestimmt. Der europäische Erfolg der "Lustigen Witwe" wiederholte sich in Amerika. In Chicago wurde Lehárs Meisterwerk am 2. Dezember 1907 gespielt. Als lustige Witwe brillierte Lina Abarbanell, die einst bei der Uraufführung der "Wiener Frauen" nicht ahnen konnte, dass sie als Claire dazu beigetragen hatte, den Weg von Lehár auf den Thron des Fürsten der Silbernen Operettenära zu ebnen.




Gaëtano Donizetti LUCREZIA BORGIA



Für ihren Zeitgenossen, den Politiker Francesco Guicciardini, ist ihr Name „mit großer Schande bedeckt“, nach Victor Hugo gehört sie einer „Familie von Teufeln“ an und der Historiker Ferdinand Gregorovius nennt sie in seiner 1874 erschienenen Biografie die „unseligste Frauengestalt der modernen Geschichte“: Lucrezia Borgia. In der Erinnerung der Nachwelt verkörperte sie eine faszinierende Mischung aus Verderbtheit und Glanz, sie wurde zum Inbegriff eines wüsten Lebens in den dramatischen Zeiten der Hochrenaissance: Als tückische Intrigantin und bösartige Giftmischerin sagte man ihr sogar ein Verhältnis mit ihrem Vater nach.

Wilde Gerüchte

Dieses durch Legenden entstandene Bild von Lucrezia Borgia haben Historiker inzwischen revidiert: Sie war keine Täterin, sondern ein Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse. Geboren wurde sie am 18. April 1480 als Tochter von Kardinal Rodrigo Borgia, dem späteren Papst Alexander VI., und seiner langjährigen Mätresse Vanozza de’ Cattanei. Mehrfach wurde Lucrezia verkuppelt und von ihren ersten beiden Männern aus politischen Gründen wieder geschieden. Ihr dritter Ehemann, Alfonso von Aragon, war der Vater ihres 1499 geborenen Sohns Rodrigo, der Pate für die frei erfundene Figur des Gennaro in Donizettis Oper Lucrezia Borgia stand. Nachdem Alfonso von Aragon von politischen Gegnern in seinem Bett erwürgt worden war, zog sich Lucrezia auf ihr Schloss bei Rom zurück. Im Jahr 1501 bereitete ihr Vater Alexander VI., der seit 1492 als Papst auf dem Heiligen Stuhl saß, eine erneute Heirat seiner Tochter mit Herzog Alfonso I. d’Este von Ferrara vor. Zunächst zeigte sich Alfonso abgeneigt mit einer unehelich geborenen Tochter aus dem Geschlecht der Borgia die Ehe einzugehen, Papst Alexander VI. konnte den Herzog durch eine hohe Mitgift umstimmen. Die Hochzeit fand 1501 in Rom statt. 1505 wurde Alfonso nach dem Tod seines Vaters Herrscher über Ferrara, Modena und Reggio. Der zeitgenössische Dichter Ludovico Ariosto rühmte Lucrezia, die neue Herrin Ferraras: „Alle anderen Frauen gleichen Lucrezia nur wie das Zinn dem Silber, das Kupfer dem Gold, die Mohnblume der Rose, die bleiche Weide dem immergrünen Lorbeer.“ Lucrezia versammelte am Hof von Ferrara die berühmtesten Künstler, Schriftsteller und Gelehrten ihrer Zeit um sich, darunter den Maler Tizian, und erlebte an der Seite eines sie liebenden Mannes und ihrer Kinder die glücklichste Zeit ihres nur 39 Jahre währenden Lebens. Dennoch kursierten immer wieder wilde Gerüchte über den verderblichen Einfluss der Lucrezia Borgia auf die Männer, so als ihr der Florentiner Humanist Ercole Strozzi 1508 ein freizügiges Gedicht widmete, und wenig später ermordet aufgefunden wurde. Ihr schlechter Ruf blieb über ihren Tod hinaus an ihr haften.

Betrunken – Tot!

Victor Hugos griff in seinem 1833 in französischer Sprache verfasstem Drama Lucrèce Borgia die zahlreich kursierenden Legenden um Lucrezia auf. Sein blutrünstiges Theaterstück feierte im 19. Jahrhundert europaweit Triumphe; in Deutschland wurde es in einer Übersetzung von Georg Büchner gespielt. Darin ist in den Überschriften der drei Akte, die in Büchners deutscher Übertragung „Handlung“ genannt werden, der Inhalt knapp zusammengefasst: „Erste Handlung – Schande über Schande, Zweite Handlung – Das Paar, Dritte Handlung – Betrunken - Tot“. Victor Hugo erzählt in seinem Schauspiel die Tragödie einer monströsen Frau im Stil der französischen Schauerromantik: Aus Rache für eine erlittene Schmach träufelt Lucrezia Gift in den Wein einer Festgesellschaft von jungen Leuten. Der Augenblick des Triumphes gerät zum Fiasko, denn der Preis, den sie für ihre Tat zahlen muss, ist hoch – Auch ihr Sohn Gennaro hat von dem vergifteten Wein getrunken.

Gefühle zum Erschauernlassen

Im Jahr der Uraufführung von Victor Hugos Drama unterschrieb Gaëtano Donizetti einen Vertrag mit der Mailänder Scala, der ihn zu zwei neuen Opern verpflichtete. Das Textbuch zur ersten Oper Lucrezia Borgia sollte Felice Romani schreiben. Der Komponist bat seinen Librettisten um besonders starke Szenen, „die Gefühle bis zum Erschauernlassen erregen würden.“ Donizetti faszinierte an Hugos Dramenvorlage, dass darin die Konstellation „Ehepaar und Liebhaber“ abwandelt wurde in eine für die damalige Zeit auf dem Theater unkonventionelle Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Gennaro und Lucrezia, dem sie sich als Mutter nicht zu erkennen gibt und für seine Liebhaberin gehalten wird. Felice Romani folgte in seinem Libretto nur in Grundzügen der Handlung von Hugos Schauspiel. Er löste sich in seinem Libretto von Hugos Renaissance-Prunkgemälde und arbeitete die Dramenvorlage für die Bedürfnisse der Opernbühne um, indem er sich auf die private Tragödie einer verkannten Mutter-Sohn-Beziehung konzentrierte. Die Gesellschaft der Adligen, die bei Hugo breiten Raum einnimmt, wurde zur singenden Statisterie degradiert und agiert – mit Ausnahme von Gennaros Freund Maffio Orsini – ohne eigenständige Charakterisierung, alle für den Gang der Handlung wesentlichen Episoden wies Felice Romani den Hauptfiguren zu. Dadurch ergab sich eine leichter fassbare und schlüssigere Führung des dramatischen Geschehens als bei Victor Hugo, dessen Schauspiel sich in vielen Nebenhandlungen verliert. In der Opernfassung wird Lucrezia als verzweifelte, in ihren Gefühlen verkannte Mutter gezeigt, der Herzog wird seiner öffentlichen Funktion fast vollständig beraubt und auf einen vermeintlich betrogenen Ehemann zurechtgestutzt – für die Logik der Opernbühne reichte diese Vereinfachung aus. Und während Victor Hugo seiner Titelheldin Lucrezia ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem Sohn unterstellt, deuten Donizettis und sein Librettist die Beziehung als tragisches Zusammentreffen zweier Menschen, von Gennaro, der seine Mutter idealisiert, obwohl er sie nicht kennt, und von Lucrezia, die nach eigener Aussage „jeder verabscheut“, und die durch die Begegnung mit Gennaro hofft, „in einem einzigen Herzen das Gefühl von Mitleid und Liebe zu erwecken“.

Bühnenwirksame Legende

Donizetti und sein Librettist vermieden es aber, aus Lucrezia ein Unschuldslamm zu machen; sie griffen wie Victor Hugo die bühnenwirksame Legende der bösen Giftmischerin auf, versuchten jedoch, ihr Verhalten plausibel erscheinen zu lassen: Wenn Lucrezia im letzten Akt den Wein vergiftet, wehrt sie sich dadurch gegen die ungeheueren Anschuldigungen, mit denen sie die Offiziere im Prolog der Oper konfrontierten und beleidigten. Der Giftmord ist die einzige Möglichkeit einer einsamen Frau, um sich vor den Verleumdungen der Männer zu schützen. Im Finale der Oper Lucrezia Borgia weichen Donizetti und Romani endgültig von Hugos Dramenvorlage ab. Bei Victor Hugo ersticht Gennaro seine Mutter mit einem Dolch, weil er sich von ihr getäuscht fühlt, da sie sich ihm zu spät als seine Mutter offenbart hat, bei Donizetti lässt Gennaro, nachdem er von Lucrezia erfahren hat, dass auch er ein Borgia sei, das verabreichte Gift wirken und stirbt, woraufhin die Titelheldin entseelt zusammenbricht. Lucrezia Borgias dramatischer Tod auf der Bühne – bei Hugo durch einen Dolchstoß, bei Donizetti durch einen „strafenden Pfeil von Himmel“, den sie sich erbittet – entsprach nicht der Wahrheit. Lucrezia starb am 24. Juni 1519 in Ferrara wenige Stunden nach der Geburt ihres neunten Kindes.

Strahlende Primadonnentöne

In der Uraufführung von Lucrezia Borgia am Teatro alla Scala in Mailand am 26. Dezember 1833 wurde die Titelpartie von der Sopranistin Henriette Méric-Lalande übernommen, deren immens beweglicher Sopran zu einer ungewöhnlich reichen Ausstattung ihres Gesangsparts durch Donizetti führte. Seine Oper bietet den Rahmen für große Auftritte einer Primadonna, die sowohl das szenische als auch das musikalische Geschehen beherrscht, zunächst mit ausdrucksvollen Kantilenen und zahlreichen vokalen Kunststücken in ihrer von Harfenklängen begleiteten Auftrittsarie „Come è bello“, danach in einem dramatischen Duett mit dem Tenor „Infelice! Il veleno bevesti!“ und schließlich in dem mitreißenden Finale „Tu pur qui?“, in dem zum krönenden Abschluss der Oper ein lang angehaltener Spitzenton der Primadonna strahlend über allem leuchtet. Den anderen Solisten blieb die Möglichkeit vokaler Prachtentfaltung weitgehend versagt und im Orchestersatz verzichtete Donizetti auf romantische Genremalerei, die Musik ist schlicht und zugleich raffiniert mit weitausgesponnen Melodiebögen.

Diskussionen

Nachdem die Sopranistin Henriette Méric-Lalande die fertig gestellte Partitur studiert hatte, forderte die gefeierte Bühnenkünstlerin im Finale der Oper nach dem Tod von Gennaro eine effektvolle Cabaletta zu singen, die in der Originalkomposition nicht enthalten war. Romani schloss sich Donizettis Opposition gegen die Idee der Primadonna an, bis es schließlich hieß „keine Cabaletta, keine Méric-Lalande“. Der Sängerin ging es dabei nicht nur um die brillante Prachtentfaltung ihrer Stimme, sie wusste auch, dass eine packende Cabaletta im Finale den Jubel des Publikums und damit den Erfolg des Abends sicherte. Das hatte auch der maestro di musica zu akzeptieren und Donizetti lenkte nach vielen Diskussionen ein, weil auch er um die äußere Wirkung der zusätzlich geforderten Cabaletta wusste, obwohl er sie in einem Brief an seinen Schwager Antonio Vasselli nachträglich missbilligte. Der Komponist fand es lächerlich, dass „eine Mutter im Beisein des Leichnams ihres Sohns eine solche Entfaltung ihrer gesanglichen Behändigkeit zur Schau stellen wollte.“ Dennoch erschien die umstrittene Cabaletta „Era desso il figlio mio“ in allen frühen Notenausgaben von Lucrezia Borgia.

Tiefgreifende Umarbeitungen

Das Publikum reagierte auf die Uraufführung enthusiastisch, die Presse verhalten: Kritisiert wurde der Mangel an melodischer Neuheit. 1840 war in Paris die französische Erstaufführung vorgesehen, die Übersetzung des von Felice Romani in italienischer Sprache geschriebenen Librettos nahm Etienne Monnier vor. Victor Hugo erhob daraufhin Einwände gegen die französische Fassung von Donizettis Oper, da er seine Urheberrechte verletzt sah. Dennoch wurde in Paris an der Premiere festgehalten. Victor Hugo klagte auf literarischen Diebstahl und erwirkte eine gerichtliche Verfügung, die eine weitere Verwendung seines Schauspiels als Grundlage eines Opernlibrettos untersagte. Um Donizettis Oper dennoch in Paris spielen zu können, ergab sich die Notwendigkeit, die literarische Quelle zu kaschieren und sowohl den Titel als auch die Verse des originalen Librettos von Felice Romani zu ändern, wobei die Handlung um einen verleumdeten Sohn im Spannungsfeld zwischen seiner Mutter und deren Ehemann beibehalten wurde. Der Schauplatz der Pariser Fassung von Lucrezia Borgia wurde von Ferrara nach Granada verlegt, die italienischen Renaissance-Figuren betraten als Türken die Bühne, und die Pariser Erstaufführung fand unter dem neuen Titel Nizza di Grenada statt. Auch bei den Vorstellungen von Donizettis Oper in Rom mussten 1841 Änderungen vorgenommen werden. Nach Auffassung der Zensur konnte im Zentrum des Papsttums eine Oper über Lucrezia Borgia, die uneheliche Tochter des späteren Papst Alexander VI., nicht geduldet werden. Die Vorstellungen durften erst nach tiefgreifenden Umarbeitungen des Librettos als Elisa da Fosco über die Bühne gehen. Doch gerade diese Aufführungen in Rom begründeten die Popularität von Donizettis Oper, die schließlich in ganz Europa gespielt wurde, und Franz Liszt dazu inspirierte, 1849 seine Réminiscences de Lucrezia Borgia, sur des motifs de l’opéra de Gaëtano Donizetti für Solo-Klavier zu komponieren.


Freitag, 30. April 2010

Karl Millöcker GASPARONE


„Millöcker, Sie haben Melodie“, rief der Dirigent Hans von Bülow dem Komponisten Karl Millöcker nach einer Aufführung seiner Operette „Gasparone“ zu, und die ‚Neue Presse‘ kommentierte nach der Uraufführung 1884: „Noch beherrscht sein ‚Bettelstudent‘ alle deutschen und nichtdeutschen Operettenbühnen, und schon wieder hat er mit einem neuen Werk einen unbestrittenen Erfolg errungen“.

Räuber und Gendarm

Die Geschichte um den geheimnisvollen Banditen namens „Gasparone“ steht dem „Bettelstudent“ an literarischen und musikalischen Qualitäten nur wenig nach. Die überquellende melodische Erfindung und die herzerfrischende Originalität des Librettos vereinigen sich in diesem sizilianischen Räuber- und Gendarmenspiel zu einem fröhlich-vitalen Bühnenspaß, der bis heute ein fester Bestandteil des Operettenrepertoires geblieben ist, und Millöcker bildete zusammen mit Johann Strauß und Franz von Suppé das Dreigestirn der goldenen Wiener Operettenära.

Durch Fleiß zum Erfolg

Karl Millöcker wurde 1842 in Wien geboren. Er war der Sohn eines Goldschmieds und ging nach der Schulzeit beim Vater in die Lehre. Millöcker erinnerte sich an seine Lehrzeit: "Als Goldschmiedgesell hab ich angefangen. Und ich könnte heute über ein wohlassortiertes Lager selbstverfertigter Eheringe und Firmungskreuze verfügen, hätte mir nicht mein Jähzorn diese schöne Karriere ein- für allemal verschlossen. Ich saß in meines Vaters Werkstatt und führte das Hämmerlein. Und wenn mir so eine güldene Kette nicht gleich parieren wollte, so machte ich kurzen Prozess und warf sie auf die Straße hinaus. Diese Methode in der Verarbeitung von Edelmetall war in der edlen Wiener Goldschmiedkunst bisher noch nirgends angewendet worden. Und mein Vater, der begründete Zweifel hatte, dass durch meine Methode sein Geschäft in Flor kommen sollte, erwies sich und der Goldschmiedkunst einen unschätzbaren Dienst und machte mich zum Musiker, was stets mein Herzenswunsch gewesen." Da ihm die Eignung zu diesem Beruf also fehlte, ließ ihn der Vater am Wiener Konservatorium ausbilden. Bereits mit 16 Jahren saß Millöcker als Flötist im Orchester des Theaters in der Josefstadt unter dem Dirigenten und Komponisten Franz von Suppé, der ihn maßgeblich förderte. 1864 wirkte Millöcker während zwei Spielzeiten als Kapellmeister in Graz und brachte hier seine ersten Operetteneinakter heraus. Nach Engagements am Wiener Harmonie-Theater und am deutschen Theater in Budapest wurde Millöcker 1869 als Kapellmeister an das bekannte Theater an der Wien verpflichtet. Nach damaligem Theaterbrauch wurde er zur Komposition von Liedern und Ballettmusik für Possen und Lustspiele verpflichtet. Fleißig bereicherte Millöcker Jahr für Jahr mehrere Dutzend Einakter mit seiner Musik, ohne dass ihm der große Wurf gelang. Seine erste abendfüllende Operette „Das verwunschene Schloß“ wurde 1878 am Theater an der Wien begeistert aufgenommen. Auch die folgenden Operetten „Gräfin Dubarry“, „Apajune, der Wassermann“, „Herz Ass“ und „Die Jungfrau von Belleville“ fanden Anklang beim Publikum und die erfolgreiche Uraufführung des „Bettelstudenten“ versetzte ihn im Frühjahr 1882 in den Stand, die anstrengende und aufreibende Kapellmeistertätigkeit aufzugeben, sich ausschließlich dem Komponieren zu widmen und seinem Steckenpferd nachzugehen. Leidenschaftlich sammelte Karl Millöcker Ansichtskarten aus aller Welt, die er zusammen mit seinen Partituren nach seinem Tod am Silvesterabend des Jahres 1899 der Stadt Wien vermachte.

Recht und Unrecht

Auf der Suche nach einem wirksamen Libretto waren Millöckers Textdichter F. Zell (ein Pseudonym von Camillo Walzel) und Richard Genée auf den wilden Süden Italiens gestoßen. Dort hatte in den Jahren um 1820 der legendäre Räuber Gasparone sein Unwesen getrieben, von dem die „Wiener Zeitschrift“ bereits 1830 zu berichten wusste: „In den Gefängnissen in Rom befindet sich ein Räuberhauptmann, nämlich Gasparone, den man 243 Mordthaten beschuldigt, von denen er 105 eingesteht.“ Der historische Gasparone war schon zu Lebzeiten eine legendäre Figur, der wie andere Räuber die Zeitungen ganz Europas mit seinen Verbrechen füllte, und den Literaten durch den Konflikt zwischen Recht und Unrecht spannende Anregungen für Theaterstücke und komische Opern gab. Dabei waren die Bühnenräuber zumeist hochherzige Menschen, treue Untertanen der Fürsten, die nur die ungerechten lokalen Gewalten bekämpften, liebenswerte Salonräuber, die beim Publikum ein angenehmes Gruseln hervorriefen. Erinnert sei an „Fra Diavolo“ von Auber, „Die Banditen“ von Offenbach und an die drei Verdischen Räuberopern „Ernani“, „Die Räuber“ und „Der Korsar“. Die Handlung von „Gasparone“ trägt sich auf der Mittelmeerinsel Sizilien zu. Sizilien und der gegenüberliegende Teil des Festlandes (der „Fuß des Stiefels“) bildeten zur Zeit der Handlung von „Gasparone“ um 1860 ein Königreich, das zu den korruptesten und reaktionärsten des damaligen Europa gehörte. Einen unheilvollen Einfluss übte bereits damals die Mafia aus. Sie unterstützte den Schmuggel und war in zahlreiche Bestechungsaffären verwickelt. Die Operette „Gasparone“ war bei aller Heiterkeit der Handlung ein Abbild damaliger Zustände. Millöcker nahm sich eines Stoffes an, der in der Schilderung behördlicher Korruption Parallelen zur Wiener Gegenwart bot, und in vielen Teilen auf historisch belegbaren Vorgängen beruhte.

Banditen und Herzensbrecher

In Millöckers Operettenerfolg hat der schlaue Schankwirt Benozzo, um Nasoni, den Podestà von Syracus, und dessen Polizei von seinem Schmugglertreiben abzulenken, die Gestalt des Räuberhauptmanns Gasparone erfunden, der angeblich in den Schluchten des Ätna sein Unwesen treibt. Das ganze Land zittert vor dem legendären Banditen, aber nur Conte Erminio kennt den wahren Sachverhalt. Er liebt die schöne Gräfin Carlotta, die Nasoni um ihrer Millionen willen mit seinem Sohn Sindulfo verheiraten möchte. Um zu beweisen, dass Nasoni und sein Sohn nur hinter Carlottas Vermögen her sind, raubt Erminio ihre Millionen. Nun glaubt die Gräfin, dass Erminio und Gasparone ein- und dieselbe Person sind, und will aus Trotz Sindulfo die Hand reichen. Doch der Podestà kann keine mittellose Schwiegertochter brauchen. Erminio hat sein Ziel erreicht, erzählt der Gräfin die Wahrheit, gibt das Geld zurück und erhält ihre Hand und ihr Herz.

Weltpremiere in Wien

Millöckers „Gasparone“ wurde nach der Uraufführung am 26. Januar 1884 am Theater an der Wien wochenlang ohne Unterbrechung gespielt. Das war ein Novum, denn in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kannte man selbst bei stärksten Erfolgsstücken noch nicht die Ensuite-Vorstellung. „Gasparone“ erreichte bald die 50. Vorstellung und als erste Operette in der Theatergeschichte Wiens die 100. Vorstellung in Folge. Zum Erfolg trug die Besetzung mit populären Wiener Bühnenstars bei. Den Schmugglerwirt Benozzo spielte Alexander Girardi an der Seite von Marie Nassa, Moritz Broda, Felix Schweighofer und Rosa Streitmann.

Hausmannskost und Wiener Küche

Der Operettenkomponist Edmund Nick unternahm 1956 eine musikalische Charakterisierung des Komponisten: „In Millöcker Operetten, Possen, Volksstücken, Singspielen, Zeitgemälden und Lebensbildern steckt viel Musik. Der Ohrenschmaus, den sie uns bereitet, ist nicht wie bei Strauß ein erlesenes opulentes Souper mit vielen Gängen, an herrlich dekorierte Tafel graziös serviert. Es ist gut bürgerliche Hausmannskost, Wiener Küche, geschmackvoll, bekömmlich, sättigend und nicht teuer. Ab und zu würzt Millöcker mit Pfeffer und Paprika, nur sind seine Prisen übervorsichtig dosiert. Karl Millöcker hat nie etwas anderes komponiert als Musik fürs Theater. Von Millöckers vielen Melodien sind verhältnismäßig wenige geblieben. Die aber haften für immerwährende Zeiten, denn sie sind volkstümlich geworden.“ In „Gasparone“ sind die Evergreens der Walzer „Er soll dein Herr sein, wie stolz das klingt“, das Duett „Stockfinster war die Nacht“ und die Romanze „Oh, dass ich doch ein Räuber wäre“.

Dunkelrote Rosen

Das Lied „Dunkelrote Rosen“, das für viele Zuhörer eng mit der Operette „Gasparone“ verbunden ist, stammt aus einer späteren Bearbeitung des Werks, das zahlreichen Umformungen unterworfen war. Die häufig übliche Praxis der Neufassung von Text und Musik führte bei „Gasparone“ zu einer Reihe qualitativ unterschiedlicher Versionen, die unter Einbeziehung neuer musikalischer Nummern und modischer orchestraler Effekte in das Originalwerk eingriffen. Bereits 1887 wurde am Thalia-Theater in Hamburg eine erste Umarbeitung gespielt, der weitere folgten. Am Theater am Nollendorfplatz kam 1932 eine tiefgreifende Bearbeitung von „Gasparone“ in Berlin heraus. Die Urfassung wurde unter Einarbeitung zahlreicher Melodien aus unbekannten Bühnenwerken Millöckers zur prachtvollen Revue im Stil der späten zwanziger Jahre herausgeputzt, die Instrumentation mit jazzigen Zutaten aufgepeppt und die Texte im frechen Jargon jener Jahre umgedichtet. Die Autoren veränderten auch die Dramaturgie des originalen Bühnenwerks. Während in der Urfassung die Zuschauer zu Beginn der Handlung darüber in Kenntnis gesetzt werden, dass der geheimnisvolle Räuber Gasparone eine schlaue Erfindung zwecks Täuschung der Obrigkeit ist, tritt in der Berliner Umformung von Ernst Steffan und Paul Knepler ein geheimnisvoller Fremder auf, der sich im Verlauf der Handlung als Gouverneur des Landes herausstellt. Im zweiten Akt stimmt er das Lied „Dunkelrote Rosen“ an. Millöcker hatte die Melodie für sein Frühwerk „Diana“ 1867 geschrieben. Der Komponist übernahm die Weise später in seine Operette „Der Vizeadmiral“, die zwei Jahre nach „Gasparone“ uraufgeführt wurde. Sie wurde dort in ein Terzettino umgewandelt, das mit den Versen begann: „Geh’n wir in den Garten, atmen Blumenduft! / Amor mischt die Karten, Liebe dort uns ruft“. Ernst Stephan dichtete auf diese Melodie „Dunkelrote Rosen bring ich, schöne Frau / und was das bedeutet, wissen Sie genau!“ Eine weitere Fassung schufen Ernst Rogati und der durch die Operette „Feuerwerk“ bekannt gewordene Paul Burkhard 1938, der auch 1964 zusammen mit Richard Bars eine erneute musikalische Bearbeitung vornahm, die sich wieder der Originalpartitur annäherte.

Rökk ohne Rosen

„Gasparone“ brachte es in allen seinen Versionen zu großer Popularität beim Publikum. Eine Verfilmung der UFA aus dem Jahr 1937 von Georg Jacoby vereinte die Leinwandlieblinge Marika Rökk, Johannes Heesters, Oskar Sima und Leo Slezak in einer bunten Räuber-Revue. Peter Kreuder ergänzte die Millöckerschen Melodien durch eigene Kompositionen, von denen „Ich werde jede Nacht von Ihnen träumen“ zum Evergreen wurde. Das Lied von den dunkelroten Rosen kam in der Filmfassung nicht vor und ist bis heute mit der Steffan-Knepler-Fassung verlagsrechtlich untrennbar verbunden. Um das Publikum aber nicht um den Genuß der populären Melodie zu bringen, wurden die Noten zur Millöckerschen Melodie, auf der die „Dunkelroten Rosen“ basierten und die urheberechtlich frei ist, von einfallsreichen Bühnenleitern neu textiert und zu einem Duett zwischen Carlotta und Erminio umfunktioniert: „Wenn die Lippen schweigen, spricht das Herz allein, / Blumen können Zeugen der Gedanken sein“ – und notfalls als Balletteinlage ohne Worte getanzt.

Opern nach Alexander Puschkin


Der russische Autor Alexander Puschkin schuf Werke des kritischen Realismus. Seine Dichtungen regten viele Opernkomponisten zu Vertonungen an.

Die Utopie der Freiheit

Die russische Gesellschaft im 19. Jahrhundert war geprägt durch eine antidemokratische Zarenherrschaft, die verbunden mit einer unnachgiebigen Zensur den Künstlern die Luft zum Atmen nahm. Puschkin stieß wegen seines ungebändigten Charakters immer wieder an Grenzen. Die erträumte Freiheit erreichte er nur in seinen Dichtungen. Die geistigen Ketten seiner Zeit im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts versuchte er durch Ironie, Sarkasmus und Provokation zu sprengen. Als Wegbereiter des kritischen Realismus fand sein literarisches Gesamtwerk über die Grenzen Russlands hinaus auch in Europa Anerkennung. Der Dichter, der nur 37 Jahre alt wurde, prägte mit seinem Schaffen nachfolgende Künstlergenerationen, und inspirierte die Komponisten der russischen Schule zu mehr als zwei Dutzend Opern.

Kritischer Realismus in der Oper

Peter Tschaikowski griff drei Mal auf literarische Vorlagen von Puschkin zurück. Die Aufführungen von Mazeppa (1884) nach dem epischen Gedicht Poltawa blieben auf Russland beschränkt, doch mit Pique Dame, 1890 nach Puschkins gleichnamiger Novelle komponiert, und mit den lyrischen Szenen Eugen Onegin, die 1879 nach Puschkins viel gelesenem Versroman entstanden, gelangen Tschaikowski zwei Welterfolge des Musiktheaters. Bei der Vertonung von Eugen Onegin setzte Tschaikowski seine an Puschkins kritischem Realismus orientierte Dramaturgie seiner Oper gegenüber dem Librettisten durch. Keineswegs sollte der Textdichter den gesellschaftskritischen Ton der Puschkinschen Dichtung in den Hintergrund rücken, die fortschrittliche Dimension des Werks reduzieren und stattdessen die sentimentalen Elemente betonen. Tschaikowski schrieb an den Komponisten Sergei Tanejew: »Ich pfeife darauf, dass es keine bühnenwirksame Oper wird. Dann wird sie eben nicht aufgeführt!« Tschaikowski folgte der Vorlage von Puschkin und erzählte von Menschen, die an Vereinzelung und Entfremdung leiden und daran zerbrechen. Die Geschichte der unerfüllten Zuneigung des Landmädchens Tatjana zum Lebemann Onegin ist mehr als eine private Affäre. Sowohl bei Puschkin als auch bei Tschaikowski spiegelt sie gesellschaftliche Missstände wider, die Menschen in das enge Korsett der Konvention pressen.

Eine Märchenoper als Politikum

Auch Nikolai Rimski-Korsakow, der drei Opern nach Puschkin vertonte, erfüllte 1898 im Einakter Mozart und Salieri die Intentionen des russischen Autors. Das einaktige Drama von Puschkin basierte auf dem Gerücht, der Komponist Salieri hätte den ihm überlegenen Wolfgang Amadeus Mozart aus Eifersucht vergiftet. In der Gestalt Mozarts fand Puschkin die Möglichkeit, seine Idee vom freien und unabhängigen Künstler auszudrücken. Wie ein Unwetter bricht Mozart in Salieris auf strengster Ordnung basierende Künstlerwelt ein. Mozarts Werken lag nicht die Tradition zugrunde, sondern allein die Begeisterung im Augenblick der Inspiration. Puschkin erkannte sich darin wieder: Mozart zerstörte die künstlerischen Gesetze seiner Zeit mit genialer Unbekümmertheit, so wie es Puschkin in seiner Epoche tat. Auch in märchenhafter Form hat Puschkin seine Kritik an der russischen Gesellschaft formuliert. Diese ließ Nikolai Rimski-Korsakow in seine Oper Der goldene Hahn (1909) einfließen. Originalverse von Puschkin wurden in das Libretto übernommen und mehr als siebzig Jahre nach dem Tod des Dichters zeigte sich seine gesellschaftskritische Haltung in der Geschichte der schönen und unabhängigen Schemacha, die in eine Ehe gezwungen werden soll. Die Zensur bezog Puschkins Dichtung, obwohl 1834 entstanden, auf die niedergeschlagene Revolution von 1905 und reinigte das Libretto der Oper wegen nicht zu überhörender Anspielungen auf die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Herrschern und Beherrschten von seinen Versen.

Kampf um die Freiheit

Eine der dramatischsten Episoden der russischen Geschichte waren die innenpolitischen Auseinandersetzungen gegen Ende des 16. Jahrhunderts um Zar Boris. Puschkin verband in seinem Versdrama Boris Godunow historische Wahrheit und Dichtung. Der Hinweis auf die Fragwürdigkeit einer dynastischen Legalität und die Forderung nach der Einführung einer der Demokratie angenäherten Wahlmonarchie führte dazu, dass Puschkins Drama von der Zensur zunächst nicht zum Druck freigegeben wurde. Nach der Vorlage schuf der Komponist Modest Mussorgski 1874 die Oper Boris Godunow, die im Sinn von Puschkin das Für und Wider des Gottesgnadentums diskutierte, auf das die Zaren sich beriefen. Mussorgskis Vertonung folgte der Konzeption Puschkins, der zum ersten Mal in einem russischen Schauspiel die Volksmenge nicht als malerischen Hintergrund auftreten ließ, sondern als aktiven Träger der Handlung zeigte und somit aufwertete. Am Beispiel eines Herrschers einer vergangenen Epoche zeigten sowohl Puschkin als auch Mussorgski, dass die Gewaltinhaber nicht dazu bereit waren, gesamtgesellschaftliche Interessen durchzusetzen.

Volk und Kunst

Puschkins Versepos Ruslan und Ludmilla diente Michail Glinka 1842 als Vorlage zur gleichnamigen Oper. In seinem Bühnenwerk griff Glinka die Methode Puschkins der romantischen Ironie auf, mit der sich der Dichter zu den zentralen Themen seiner Zeit geäußert hatte – zum Verhältnis von Dichter und Volk, Volk und Kunst, Geschichte und Kultur. Puschkin machte den Blick frei für Widersprüche, Kontraste und Unaufgelöstes. Der Leser wurde unversehens zu einer eigenen Stellungnahme veranlasst, was Puschkins Dichtungen in den Augen der Obrigkeit ganz besonders gefährlich machte. Im Finale der Oper Ruslan und Ludmilla fallen die Mauern eines Festsaals in Kiew. Das Volk dringt in die Gemächer ein und begibt sich auf die gleiche Ebene wie das Fürstenpaar. In der Überwindung der trennenden Mauern zeigt sich Puschkins Vision eines nicht mehr unterdrückten russischen Volks, für dessen Befreiung der Dichter ein Leben lang gekämpft hat.

Franz Lehár PAGANINI

Die Operette Paganini brachte Lehár 1926 in seinem 56. Lebensjahr endlich wieder einen durchschlagenden Erfolg, wenn auch über einen Umweg.

In der Schaffenskrise

Die Premiere der „Lustigen Witwe“ lag mehr als 20 Jahre zurück und trotz mancher einprägsamer Melodie errangen die nachfolgenden Bühnenwerke „Der Mann mit den drei Frauen“, „Das Fürstenkind“, „Eva“ ,„Endlich allein“ und „Die blaue Mazur“ nie den Welterfolg der „Lustigen Witwe“ erringen. Zwar waren „Der Graf von Luxemburg“ und „Zigeunerliebe“ beim Publikum beliebt, aber zu Beginn der zwanziger Jahre war Lehár in einer Schaffenskrise. Während er mit „Frasquita“ 1922 wenigstens einen Achtungserfolg erringen konnte, war die Uraufführung der Operette „Die gelbe Jacke“ 1923 ein Misserfolg, unter dem er litt. Auch „Clo-Clo“ erfüllte seine Hoffnungen auf einen Kassenknüller nicht.

Eine Künstlerfreundschaft

Lehár baute seine ganze Hoffnung auf einen aufstrebenden Tenor, der als Opernsänger auch in Operetten auftrat. Mit der Titelfigur in „Paganini“ wollte Lehár die wachsende Popularität Richard Taubers nutzen und für den Sänger eine Paraderolle schaffen. Lehár erlebte Tauber erstmals in einer Salzburger Aufführung seiner „Zigeunerliebe“ 1921. In der Uraufführungsserie der „Frasquita“ trat Tauber in Wien 1922 noch als Zweitbesetzung mit dem Lied “Hab’ ein blaues Himmelbett“ auf, das zu einem der ersten unverwechselbaren Tauber-Lehár-Schlager wurde. Die Berliner Erstaufführung von „Paganini“ besiegelte die Künstlerfreundschaft. Wann immer Tauber als Paganini in Berlin die Bühne betrat, forderte das Publikum die mehrfache Wiederholung seiner Arien, darunter das berühmte „Gern hab‘ ich die Frau’n geküßt“.

Heinrich Heine lässt grüßen

In Heinrich Heines Novelle “Florentinische Nächte“ (1836) ist über den Geigenvirtuosen Niccolò Paganini zu lesen: „Als er zu Lucca Kapellmeister war, verliebte er sich in eine Theaterprinzessin, ward eifersüchtig auf irgendeinen kleinen Abate, und erstach auf gut italienisch seine ungetreue Amata. Paganinis Äußeres hatte sich ebenfalls, und zwar aufs allervorteilhafteste verändert: er trug kurze Beinkleider von lilafarbenem Atlas, eine silbergestrickte, weiße Weste, einen Rock von hellblauem Sammet mit goldumsponnenen Knöpfen, und die sorgsam in Löckchen frisierten Haare umspielten sein Gesicht, das ganz jung und rosig erblühte und von süßer Zärtlichkeit erglänzte, wenn er nach dem hübschen Dämchen hinäugelte, das neben ihm am Notenpult stand, während er Violine spielte...Oh, das waren Melodien, wie die Nachtigall sie flötet in der Abenddämmerung, wenn der Duft der Rose ihr das ahnende Frühlingsherz mit Sehnsucht berauschte.“ Als Heinrich Heine diese Zeilen schrieb, lebte der Geigenvirtuose noch. Niccolò Paganini wurde 1782 in Genua geboren, er starb 1840 in Nizza. Dazwischen lag ein wildbewegtes Leben. Paganini erwies sich schon in frühester Jugend als hochmusikalisch, studierte bei verschiedenen Lehrern und erregte durch sein Geigenspiel örtliches Aufsehen.

Ein magischer Geiger

Wegen der kriegerischen Ereignisse konnte er in Italien zunächst überregional nicht konzertieren. 1801 waren Napoleon nach seinem Sieg über Österreich dessen italienische Besitzungen in die Hände gefallen. Er schenkte seiner Schwester Anna Elisa die winzige Republik Lucca als Fürstentum. Sie hatte 1797 den armen korsischen Adligen Felice Bacchiocchi geheiratet, der durch ihre Erhebung in den Fürstenstand ebenfalls Fürst wurde, aber in Lucca nichts zu sagen hatte. Anna Elisa legte sich einen kleinen Hofstaat zu, zu dem auch ein Kammerorchester gehörte. In diesem wurde Paganini zweiter Geiger. Nach der Auflösung des Orchesters blieb Paganini noch bis 1809 als Geigenlehrer in Lucca. Ab 1810 lebte er als reisender Violinkünstler und brachte es zu nationaler Berühmtheit. Um 1830 war er zu jenem Teufelsgeiger mit der dämonischen Ausstrahlung geworden, bei dessen Kunstgriffen die Damen scharenweise in Ohnmacht fielen. Mit atemberaubender Schnelligkeit und stupender Präzision führte er ein Feuerwerk technisch vertrackter Spielerei durch, das dem verdutzten Publikum suggerierte, der Geiger habe sich mit dem Leibhaftigen verbündet. Dabei waren diese Effekte geplant. Niccolò Paganini verwendete erheblich dünnere Darmsaiten als sonst üblich, er verfügte über eine außergewöhnliche Spannbreite der linken Hand und erfand die Springbogentechnik.

Lehár in Trance

Den Text zu „Paganini“ schrieb der Buchhändler, Schriftsteller und Amateurkomponist Paul Knepler, der zusammen mit Fritz Löhner-Beda 1934 das Libretto zu Lehárs letzter Operette „Guiditta“ dichtete. Er hatte bereits Erfahrung in der Aufarbeitung historischer Künstler mit einer Operette über die Wiener Volksschauspielerin Josephine Gallmayer gesammelt. Zwar waren bereits einige Komödien über den Teufelsgeiger aufgeführt worden, aber eine musikalische Dramatisierung seines bewegten Liebeslebens stand noch aus. Lehár, der auf der Suche nach einer inspirierenden Geschichte war, war von Kneplers Entwurf begeistert. Im „Neuen Wiener Journal“ blickte er 1937 zurück: „Schon die erste Szene mit dem faszinierenden Geigenspiel aus der Ferne macht mich stutzig. Ich lese weiter, und Musik, Musik strömt mir aus jeder Gestalt, aus jeder Situation entgegen. Ich war so gepackt, daß ich mich sofort zum Schreibtisch setzte und die ganze Nacht hindurch, ohne Unterbrechung, förmlich in einem Trancezustand den ersten Akt und noch ein Stück vom zweiten in den musikalischen Umrissen skizzierte. Völlig erschöpft stand ich gegen Morgen vom Schreibtisch auf – und doch mit einem glücklichen Gefühl. Damals schrieb ich in mein Skizzenbuch: Geburtstagsgeschenk vom lieben Gott – denn es war gerade der 30. April – mein Geburtstag!“

Liebe und Verzicht

Der Komponist zog Béla Jenbach hinzu, der den Text zur Operette „Clo-Clo“ geliefert hatte. Jenbach entwickelte zusammen mit Knepler eine unhistorische, schwülstige Geschichte mit glatten, aber wirksamen Gesangstrophen. Es ist der jugendliche Paganini, der auf dem Weg nach Lucca während einer Rast eine vornehme Schönheit kennenlernt - Anna Elisa, die Schwester Napoleons. Sie erwidert seine Neigung, zumal ihr Gatte sie schon lange vernachlässigt und verpflichtet den Künstler in ihre kleine Residenz. Ein halbes Jahr verbringt Paganini dort im Liebesbanne seiner holden Mäzenin. Da erfährt Napoleon von der Liaison seiner Schwester und verlangt die unverzügliche Abreise des angeblichen Verführers. Anna Elisa lehnt sich zunächst gegen diesen Befehl auf. Schließlich willigt sie ein. Paganinis Kunst soll der ganzen Welt gehören.

Die Weltpremiere ohne Tauber

Für die Uraufführung von „Paganini“ hoffte Lehár auf die Mitwirkung Richard Taubers. Nach wochenlangen Querelen zwischen den beiden vorgesehen Orten der Premiere, dem bekannten Theater an der Wien und dem Johann-Strauß-Theater, entschied Lehár sich auch wegen der dort zu seiner Zufriedenheit aufgeführten Umarbeitung von „Clo-Clo“ für das letztere Bühnenhaus. Tauber hatte allerdings inzwischen ein Engagement in Berlin angenommen. Als Ausgleich spielte er zusammen mit seiner Frau Carlotta Vanconti eine Woche vor der Wiener Uraufführung Arien und Duette aus „Paganini“ auf Schellackplatten ein. Das forderte zum direkten Vergleich mit dem Heldentenor Carl Clewing heraus, der schließlich als Verlegenheitslösung die Uraufführung am 30. Oktober 1925 am Johann-Strauß-Theater in Wien gestaltete. Der Sänger gehörte 1924 und 1925 als Stolzing in „Die Meistersinger von Nürnberg“ und als Parsifal zum Ensemble der Bayreuther Festspiele. Er hatte als Heldentenor seine Meriten, doch das mondäne Operettenfach lag ihm weniger. Als Anna Elisa agierte die heute vergessene Sopranistin Emma Kosáry. Sie war ihrer Partie weder stimmlich noch darstellerisch gewachsen.

Auseinandersetzungen

Die Besprechungen waren nicht einhellig und auch in den folgenden Aufführungen stellte sich der von Lehár erhoffte durchschlagende Erfolg nicht ein. Die Kritiker bemängelten die Nähe zur großen Operngestik, die vergnügungssüchtigen Zuschauer vermissten witzige und handfeste Dialoge. In der Wiener Aufführung war nur wenig von der musikalischen Noblesse und der Eleganz des Werkes zu spüren. Direktor Heinz Saltenberg, der das Deutsche Künstlertheater in Berlin 1924 übernommen hatte, berief sich daraufhin auf die mäkelnden Wiener Kritiker und weigerte sich, den Berliner Aufführungsvertrag zu erfüllen. Lehár legte Beschwerde beim Bühnenschiedsgericht ein. Nach einigem Hin und Her einigte man sich auf eine Aufführungsgarantie von dreißig statt fünfzig Aufführungen. Tauber, der sich in dieser für ihn konzipierten Rolle dem Publikum an der Spree präsentieren wollte, verzichtete auf die Hälfte seiner Gage und Lehár auf seine Tantiemen.

Gern hab’ ich die Frau’n geküsst

Den Durchbruch als eines der beliebten Bühnenwerke Franz Lehárs verdankt „Paganini“ dieser legendären Erstaufführung 1926 in Berlin. Im Deutschen Künstlertheater wurde allabendlich Richard Tauber in der Hauptrolle gefeiert. Ihm zur Seite stand Vera Schwarz als Anna Elisa. Die Sopranistin gehörte in der Operettenszene der Weimarer Republik zusammen mit Rita Georg, Gitta Alpar und Fritzi Massary zu den Hauptattraktionen. Ein Jahr später sang sie in der Uraufführung des „Zarewitsch“. Die Künstlerin war aber auch in so unterschiedlichen Partien wie Octavian im Rosenkavalier“ bei den Salzburger Festspielen und als Lady in Verdis „Macbeth“ in Glyndebourne zu erleben. Die anderen Partien waren mit Darstellern besetzt, die sich später auf der Bühne und im Film großer Popularität erfreuten. Edith Schollwer war Bela und Eugen Rex der Pimpinelli.

Eine meisterliche Partitur

Das „Berliner Tageblatt“ traf eine heute noch gültige Wertung dieser Operette: „Die Idee, eine historische Persönlichkeit auf die Bühne zu bringen, erweist sich selten als glücklich und hier ist sie besonders verfehlt. Paganini war in seinem Leben eine tragische Figur und könnte auf der Bühne auch nur tragisch behandelt werden. Was die drei Akte vorführen hat nichts mit seinem Wesen zu tun. Die eingeflochtenen komischen Episoden sind nicht stark genug, um das sinkende Interesse an dieser um psychologische Motivierung und spannende Ereignisse unbesorgten Handlung zu fesseln. Der Wert des Werkes liegt einzig in der Musik. Mag Lehár in früheren Arbeiten hie und da origineller, an zündenden Einfällen reicher gewesen sein, Paganini ist zweifellos seine reifste, meisterlichste Partitur. Die Orchestration ist sehr gut gewählt, farbig und auch da nicht massig, wo sie von der Blechgruppe ausgiebigen Gebrauch macht. Paganini steht und fällt mit der Besetzung der beiden Hauptrollen“.

Von Kopf bis Fuß

Der Komponist Lehár erlebte dank seiner Protagonisten in Berlin ein künstlerisches Comeback. In den folgenden Jahren konnte er mit seinen Operetten „Der Zarewitsch“, „Friederike“, „Das Land des Lächelns“, „Schön ist die Welt“ und „Giuditta“ jeweils mit Richard Tauber in den Hauptrollen neue Triumphe feiern. Der tragische Schluss von „Paganini“ mit dem dramatischen Liebesverzicht des Paares bestimmte als erfolgversprechendes Rezept die Dramaturgie seine Spätwerke. Nur in „Schön ist die Welt“ findet das Liebespaar noch einmal zueinander. Richard Tauber, der 1947 zusammen mit Franz Lehár sein letztes Rundfunkkonzert in der Schweiz gab, begründete durch die Berliner Aufführung von „Paganini“ seinen weltweiten Ruf als führender Operettentenor seiner Generation. 1932 schrieb er frei nach einem bekannten Chanson von Hollaender ein wenig profan, aber dankbar und witzig, in Lehárs Gästebuch: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Lehár eingestellt / Dafür krieg ich mein Geld / Für sonst gar nichts!!“

Cole Porter KISS, ME KATE


Die Uraufführung von Kiss me, Kate in New York 1948 war die Geburt eines Welterfolgs. In Frankreich wurde das Musical von Cole Porter als Embrasse-moi, Cathérine gespielt, in Italien hieß es Baciami, Caterina und in Polen war es unter dem Titel Pocaluj mnie, Kasiu zu sehen. Kiss me, Kate war das erfolgreichste seiner mehr als 30 Musicals und wurde allein in New York nach der Premiere drei Jahre lang genau 1077 Mal gespielt.

Ein Millionär startet durch

Cole Porter wurde 1891 in Peru geboren, eine kleine Stadt in Indiana. Sein Vater galt durch den Besitz von Obstplantagen und Kohlengruben als einer der reichsten Männer Amerikas. Bevor Cole Porter seine erste Note komponiert hatte, besaß er bereits ein Vermögen von sieben Millionen Dollar. Für Porter war die Komposition von Musicals deshalb stets ein angenehmer Zeitvertreib. Nie war er bei den Proben seiner Stücke anwesend, sondern unternahm währenddessen ausgedehnte Kreuzfahrten in der Südsee, gab Bälle in seinem venezianischen Palazzo oder empfing Künstler und Adlige in seinen Villen in Paris und an der Riviera. Trotz seines Reichtums hatte er auf Wunsch des Vaters zunächst Jura in Yale studiert, aber den größten Teil seiner Zeit in musikwissenschaftlichen Seminaren verbracht. Während seiner Studienzeit vertonte Cole Porter die ersten Songs als Schlachtgesänge für seine Footballmannschaft.

Night and gay

Nach weiteren musikalischen Einlagen in Studentenshows wurde die New Yorker Produzentin Elisabeth Marbury auf Cole Porter aufmerksam. Sein Debüt am Broadway, das patriotische Musical See America First, wurde 1916 zwar nach 15 Aufführungen abgesetzt, aber der Song I‘ve a Shooting Box in Scotland wurde von J. C. Smith und seinem Orchester eingespielt und gilt als die erste Schallplattenaufnahme eines Songs von Cole Porter. 1917 wurde Porter eingezogen und verbrachte einige Monate bei der amerikanischen Armee in Nordafrika. Als musikalischer Truppenbetreuer erfreute er die Kameraden mit seinem Spiel auf einem kleinen Pianola. Nach dem Ende des 1. Weltkriegs lernte Cole Porter in Paris die lebenslustige Witwe Linda Lee Thomas kennen. Die Ehe hielt ein Leben lang. Linda war weniger seine Geliebte als seine beste Freundin. Sie ließ sich auf das Arrangement ein, das ihr ein sorgenfreies Leben an der Seite eines des erfolgreichsten Broadwaykomponisten ermöglichte. In Paris nahm Cole Porter Kompositionsunterricht bei Vincent d’Indy und komponierte die Musik zu dem Ballett Within the Quota, das 1923 im Théatre du Champs-Elysées zusammen mit La Création du Monde von Darius Milhaud am selben Abend uraufgeführt wurde. Die Instrumentation übernahm der französische Komponist Charles Koechlin. Während seiner langen Karriere hat Porter wie die anderen Broadwaykomponisten mit Ausnahme von George Gershwin seine Musicals nicht selbst instrumentiert. Die Arbeit überließ er professionellen Arrangeuren wie Hans Spialek und Robert Russell Bennett, der auch für Kiss me, Kate verantwortlich zeichnete. Ihnen ist der typischen Cole-Porter-Sound verdanken, der wegen seiner Eleganz und seinem Esprit zeitlos geblieben ist.

Der König vom Broadway

Nach Porters Rückkehr nach New York wurde 1928 die Show Paris uraufgeführt. In rascher Reihenfolge erschienen auf den New Yorker Bühnen eine Hand voll Musicals aus seiner Feder mit anspruchslosen Handlungen, deren Titel heute vergessen sind. 1932 trat Fred Astaire in The Gay Divorce (1932) auf und begann mit dem Schlager Night and Day seine Weltkarriere. 1934 hatte ein Musical von Cole Porter seine Uraufführung, das heute noch gespielt wird: Anything Goes war Porters erklärtes Lieblingswerk. Es wurde über 400 Mal in New York aufgeführt und zwei Mal verfilmt. Aus der Fülle populär gewordener Lieder ragten I Get a Kick Out of You, All Through the Night und der Titelsong Anything Goes hervor. Es folgten die Erfolgsstücke Jubilee (1935), in dem June Knight Begin the Beguine vorstellte, Red, Hot and Blue (1936) mit dem Hit Ridin‘ High, den Ethel Mermann sang, und Leave It to Me (1938), in dem Mary Martin den Schlager My Heart belongs to Daddy kreierte. Zwischendurch komponierte Porter einige Songs für Filmmusicals von MGM. James Stewart und Eleonor Powell sangen You Are So Easy to Love (Born to Dance, 1936) und Fred Astaire tanzte zu den Liedern I Concentrate On You und I’ve Got My Eyes On You (Broadway Melody of 1940).

Ein wilder Hengst

Cole Porters Leben nahm eine unerwartete Wendung, als er 1937 vom Pferd fiel und sich beide Beine brach. Der Genesungsprozess, bei dem das Nervensystem in Mitleidenschaft gezogen wurde, erstreckte sich über zwei Jahre. Seine Songs zu den Shows Panama Hattie (1940), Let’s Face It (1941) und Something for the Boys (1943) zeigten, dass nach dem Unfall und den damit verbundenen Leiden Porters Verse und Melodien eine neue Dimension gewannen, wie die eindrucksvolle Ballade Ev’rytime We Say Goodbye I Die A Little aus dem Musical Seven Lively Arts (1944) beweist. 1946 hatte Michael Curtiz über Cole Porter ein Filmmusical mit frei erfundenen biographischen Details unter dem Titel Night and Day gedreht, in dem Cary Grant den Komponisten spielte.

Ganz Paris träumt von der Liebe

Cole Porters große Zeit war zu Beginn der Fünfzigerjahre vorbei. Er lebte zurückgezogen in einer Suite des Waldorf-Astoria-Hotels und war als Spätfolge seines Reitunfalls zeitweise auf den Rollstuhl angewiesen. Das ambitionierte Musical Out of This World, eine Variante des antiken Amphitryon-Stoffs, wurde am Broadway 1950 nach nur 157 Aufführungen abgesetzt. 1953 wurde das Musical Can-Can uraufgeführt, das den Zauber des Paris der Jahrhundertwende in dem Schlager I Love Paris heraufbeschwor, und Catarina Valente mit der deutschen Fassung Ganz Paris träumt von der Liebe einen ihrer größten Hits bescherte. Und ein weiterer deutscher Star feierte in einer Bühnenshow von Cole Porter große Erfolge: Hildegard Knef trat 1955 am Broadway als Ninotchka in dem Musical Silk Stockings auf. 1956 komponierte Porter mit dem Lied True Love für den Spielfilm High Society seinen letzten Welterfolg. Er beendete seine Karriere 1958 nach der Komposition von Songs für zwei Fernsehshows. Cole Porter starb 1964 in Santa Monica und wurde in seiner Geburtsstadt Peru neben seinen Eltern und seiner Frau begraben.

Shakespeare ohne Musik

Als Vorlage zum Musical Kiss me, Kate diente das in London 1594 uraufgeführte Lustspiel von William Shakespeare The Taming of the Shrew. Es war nicht das erste Mal, dass Shakespeares bekanntes Stück vertont oder verfilmt wurde. Bereits 1874 verarbeitete Hermann Goetz den Stoff zur in Mannheim uraufgeführten komischen Oper Der Widerspenstigen Zähmung. Es folgten musikalische Versionen als Petruccio von Alick Maclean 1895 in London, als La furia domata von Spiro Samara 1895 in Mailand und als La mégère apprivoisée von Charles Silver 1922 in Paris. Zum ersten Mal adaptierte David Wark Griffith 1908 den Stoff für das Kino. Es folgten sieben weitere Verfilmungen in der Stummfilmzeit. Mit The Taming of the Shrew drehte Samuel Taylor 1929 einen der ersten amerikanischen Tonfilme nach Shakespeares Komödie, der mit Mary Pickford und Douglas Fairbanks prominent besetzt war. 1967 konnte Franco Zefirelli für seine Leinwandadaption die bekannten Hollywoodstars Elizabeth Taylor und Richard Burton gewinnen.

Shakespeare mit Musik

Doch während diese Vertonungen und Verfilmungen alle in der Shakespearezeit spielten, bauten die Librettisten Bella und Sam Spewack die Geschichte um Petruchio und Katharina aus. Im Musical Kiss me, Kate führt eine Theatertruppe in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts am Broadway Shakespeares Komödie auf. In einer Rahmenhandlung wird gezeigt, dass die Darsteller von Petruchio, der Schauspieler Fred Graham und Katharina, der Bühnenstar Lilli Vanessi, seine geschiedene Frau, sich hinter den Kulissen wie die Figuren Shakespeares ebenfalls befehden. In der Bühnenhandlung des Spiels im Spiel nach The Taming of the Shrew hielten sich die Librettisten fast wörtlich an die Verse Shakespeares und benutzten für die Rahmenhandlung, die in einem Theater spielt, den New Yorker Slang der späten Vierzigerjahre.

Walzer und Balladen

Cole Porters Musicalerfolg Kiss me, Kate nimmt sich wie ein Querschnitt durch sein bisheriges Schaffen aus. Das Musical ist eine gelungene Mischung aus mitreißenden Songs, großen Tanzszenen und einer witzigen Handlung. Im Gegensatz zu seinen früheren Shows gelang es Porter, die Songs mit dem Fortgang der Handlung zu verweben. Weder vor noch nach Kiss me, Kate fand Porter zu einer so großen Skala von musikalischen Ausdrucksformen zwischen Wiener Walzerlied (Wunderbar), gefühlvollen Balladen im typischen Cole-Porter-Stil (So in Love/So verliebt), jazzbetonten Schlagern (Too Darn Hot/Es ist viel zu heiß) und ironischen Liedern (Brush Up Your Shakespeare/Schlag nach bei Shakespeare).

Küsse in 3-D

Kiss me, Kate gewann fünf Tonys: bestes Musical, beste Regie, bestes Buch, beste Musik und beste Kostüme. 1954 lief eine Verfilmung des Musicals an, die eine Besonderheit aufwies. Nach dem Siegeszug des Fernsehens in den Fünfzigerjahren versuchten die Filmproduzenten das Publikum wieder in die Lichtspieltheater zu locken, indem sie auf technische Neuerungen setzten. Dazu gehörten Streifen im Breitleinwandformat und Filme in 3-D. Mit einer Brille auf der Nase, die durch spezielle Farbfilter einen räumlichen Eindruck wiedergeben sollte, bestaunten die Kinobesucher eine dreimensionalen Verfilmung des Musicals , zu der Cole Porter den Song From This Moment On beigesteuert hatte. Das Musical wurde in 18 Sprachen übersetzt und unter dem hausbacken anmutenden Titel Küss mich, Kätchen an den Städtischen Bühnen Frankfurt 1955 zum ersten Mal in Deutschland gespielt. Die Texte hatte der Kabarettist Günter Neumann verfasst und die musikalische Leitung der reduzierten Orchesterbesetzung lag in den Händen von Christoph von Dohnányi. Der große Erfolg im deutschsprachigen Raum stellte sich aber erst 1956 nach der von Marcel Prawy initiierten österreichischen Erstaufführung an der Wiener Volksoper ein. Seither gehört Kiss me, Kate zum festen Repertoire der deutschen Musiktheater.