Sonntag, 5. Juni 2011

Gaëtano Donizetti VIVA LA MAMMA




Im Frühling des Jahres 1831 besuchte Felix Mendelssohn Bartholdy auf einer Italienreise die Stadt Rom. In Reisebriefen an seine Eltern berichtete er vom dolce far niente der römischen Bevölkerung, mit der er als korrekter Deutscher wenig anfangen konnte. Am 6. Juni 1831 schrieb er: „Das Klima ist für einen großen Herrn eingerichtet, der spät aufsteht, nie zu Fuß zu gehen braucht, nichts denkt (weil das erhitzt), nachmittags seine paar Stunden auf dem Sofa schläft, dann sein Eis isst, und nachts ins Theater fährt, wo er wieder nichts zu denken findet.“
Ein Vielschreiber
Auch einen Seitenhieb auf den erfolgreichen italienischen Opernkomponisten Gaëtano Donizetti konnte Mendelssohn sich nicht verkneifen: „Daher gibt es so wenig Industrie, daher macht Donizetti eine Oper in zehn Tagen fertig; sie wird ausgezischt, aber das tut gar nichts, denn er bekommt dafür bezahlt, und kann wieder spazieren gehen. Sollte aber seine Reputation endlich gefährdet werden, so würde er wieder zuviel arbeiten müssen, und das wäre unbequem. Darum gibt er sich zu ein paar Stückchen Mühe, damit sie recht gefallen, und kann dann wieder eine Weile spazieren gehen – und schlecht schreiben.“ In einem Punkt kann Mendelssohns bissigem Urteil beigepflichtet werden: Donizetti war ein Vielschreiber, insgesamt schuf er mehr als 70 Bühnenwerke. Allein 1831, das Jahr, in dem Mendelssohn sich in Italien aufhielt, komponierte Donizetti vier Opern.
Die Marotten des Opernbetriebs
Die Uraufführung seiner 25. Oper Le convenienze teatrali hatte am 21. November 1827 am neapolitanischen Teatro Nuovo stattgefunden. Die ursprünglich einaktige Fassung arbeitete Donizetti 1831 für eine Mailänder Aufführung in einen abendfüllenden Zweiakter um, indem er die musikalischen Nummern und die Rezitative erweiterte, das Handlungsgerüst aber beibehielt. Die neue Version trug nun den Titel Le convenienze ed inconvenienze teatrali; endgültig durchsetzen konnte sich die Oper unter dem Titel Viva la Mamma. Sie steht in einer langen Reihe von musikalischen Satiren über die Launen und Marotten von Impresarios, Sängerinnen und Sängern, Komponisten und Textdichtern, nicht zu vergessen die ehrgeizigen Mütter von Möchtegern-Primadonnen, die sich allesamt durch ihre Egozentrik das Leben schwer machen. Der Blick hinter die Kulissen eines Opernhauses, die Illusion der Teilhabe der Zuschauer am künstlerischen Schaffungsprozess gehörte von jeher zu den begehrtesten Rezeptionserlebnissen. Den zwischen zwei Primadonnen ausgetragenen Kampf ums hohe C hatte bereits Wolfgang Amadeus Mozart 1786 in seinem einaktigen Singspiel Der Schauspieldirektor verspottet, Antonio Salieri deckte Neurosen und Eitelkeiten vor und hinter den Kulissen in seinem ebenfalls 1786 komponierten Einakter Prima la musica e poi le parole auf. Ein Kapellmeister und ein Dichter streiten darüber, ob für eine neue Oper zunächst der Text entstehen soll und danach die Musik – oder umgekehrt. Als zwei aufeinander eifersüchtige Starsängerinnen sich einmischen, ufern die Diskussionen aus.
Persiflage auf das Theater
Viva la Mamma folgt den Opern von Mozart und Salieri insofern, als auch Donizetti das Theaterspielen auf dem Theater selbst persifliert. Die geltungssüchtige und exzentrische Primadonna, der affektiert-hypochondrische Tenor oder der leidgeprüfte Impressario – jeder von ihnen möchte Erfolg am Theater haben und kämpft dafür mit alle ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, Intrigen und Kabalen eingeschlossen. Als Vorlage der Handlung zu Viva la Mamma, für die Donizetti das Libretto eigenhändig verfasste, wählte er zwei Komödien des italienischen Dichters Simone Sografi: Le convenienze teatrali (Die Annehmlichkeiten des Theaters) und Le inconvenienze teatrali (Die Unannehmlichkeiten des Theaters). Aus beiden Stücken filterte er die Geschichte einer reisenden Theatertruppe, die in einer Provinzstadt eine Oper aufführen möchte. Auch Spuren seiner in Neapel 1823 erstmals gespielten komischen Oper Il fortunato inganno finden sich im Textbuch zu Viva la Mamma. Hier wie dort probt eine reisende Operntruppe für eine Aufführung und ergeht sich in ausschweifenden Diskussionen um Musik und Gesangstexte sowie die szenische Realisierung. Die resolute Sängerin Aurelia, die in Il fortunato inganno ihrer Nichte eine Hauptrolle verschaffen möchte, diente als Vorbild für Mamma Agata, die wie ihre Tochter endlich einmal auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“ stehen möchte. Mütter, die mit unermüdlichem Einsatz die Karriere ihrer Töchter vorantreiben, waren auch dem italienischen Dichter und Komponisten Benedetto Marcello vertraut. In seiner 1720 in Venedig veröffentlichten Abhandlung Il teatro alla moda sind folgende Zeilen zu lesen: „Mütter von Gesangskünstlerinnen weichen keinen Schritt von ihren Anbefohlenen. Wenn das Fräulein vor dem Direktor Probe singt, so klappen sie den Mund im Takt mit ihr auf und zu, sagen ihr die gewohnten Passagen und Triller ein. Die Frau Mutter hat die Aufgabe, dem Orchester bei den Proben das Tempo mit der Hand anzugeben, wenn das Ritornell für die Arien ihrer Tochter beginnt – und bedenkt sie am Schluss immer mit dem üblichen Bravo!“
Eine beleidigte Primadonna
Die Manöver, Streitereien und Machenschaften, die von Donizetti in Viva la Mamma szenisch-musikalisch aufbereitet wurden, waren ihm auch durch seine Tätigkeit als Kapellmeister am Teatro Carolina in Palermo bekannt. Bei der Konzeption seiner Oper erinnerte er sich an eine von ihm dirigierte Aufführung von Saverio Mercadantes Melodram Elisa e Claudio. Das Publikum unterhielt sich während der Vorstellung dermaßen laut, dass der Bassbariton Antonio Tamburini Schwierigkeiten hatte, mit seiner Stimme Gehör zu finden. Kurzerhand wechselte er ins Falsett, ein Stimmregister, in dem er offenbar über exzellente Fähigkeiten verfügte, denn das Publikum wurde aufmerksam, hörte ihm zu und applaudierte heftig. Durch den kräftigen Falsettgesang des Baritons und den damit verbundenen Beifall düpiert, rauschte die Sopranistin Caterina Lipparini wütend von der Bühne. Sie verließ das Theater, woraufhin in einer Umbaupause Antonio Tamburini das Bühnenkostüm der Lipparini anzog, das ihm viel zu klein war. In dieser grotesken Aufmachung sang Tamburini zusätzlich zu seiner eigenen auch die Rolle der Sopranistin – inklusive eines Duetts mit sich selbst. In Erinnerung an diesen unvergesslichen Theaterabend konzipierte Donizetti in seiner Oper Viva la Mamma die Partie der Mamma Agata nicht für eine Frauenstimme, sondern für einen Mann in Frauenkleidern, einen basso comico. In der Uraufführung wurde die Partie von Gennaro Luzio gesungen wurde, Antonio Tamburini trat darin erst in einer der folgenden Aufführungen auf.
Leihgaben aus eigener Hand
Donizetti ließ sich nicht nur durch die Komödien von Simone Sografi und seiner Oper Il fortunato inganno zur turbulenten Handlung von Viva la Mamma inspirieren, er nahm auch Bezug auf seine in Neapel 1826 uraufgeführte Oper Elvida. Die Handlung der fiktiven Oper Romulus ed Ersilia, die in Viva la Mamma von der Theatertruppe geprobt wird, lehnt sich in Grundzügen an Donizettis Elvida an. Aus deren Partitur entnahm er außerdem die Arie „Ah! vicino è el momento“, die Corilla zu Beginn von Viva la Mamma singt. Selbstironie blitzt in der Arie des Tenors Guglielmo „Ah! tu mi vuoihi“ auf, die in der Partitur als canta caricato bezeichnet wird. Der Sänger versucht, die hohen Spitzentöne, mit denen Donizetti seine Arien üblicherweise spickte, einigermaßen zu bewältigen. Die musikalische Satire gipfelt in temperamentvollen und zugleich karikierenden Arien und Ensembles, in denen Donizetti den Kompositionsstil von Gioacchino Rossini mit dessen unwiderstehlichen Crescendo-Spiralen nachahmt, so im Sextett-Finale des ersten Akts „Non si scherza, qui fanno davvero“. Auch Mamma Agatas Arie „Assisa a piè d’un sacco“ ist eine Parodie auf Rossini. Als Vorlage diente Desdemonas „Canzone del salice“, die Rossini 1816 für seine tragische Oper Otello komponierte.
Irritation und Intrigen
Donizettis Liebeserklärung an das Theater mit seinen Sitten und Unsitten brachte mit der theaterverrückten Mamma Agata eine der amüsantesten Bühnenfiguren hervor. Mit der Gestalt der durch ständige Anmaßungen und groteske Ambitionen die Funktionsfähigkeit des Theaterbetriebes ernsthaft gefährdenden Mamma erfand Donizetti eine zupackend-liebenswerte Bühnenerscheinung. Ihre Umtriebe und das von ihr herbeigeführte Chaos offenbaren den subversiven Humor des Komponisten. Donizetti spekuliert auf die menschliche Freude an Irritation und Destruktion. Was die handelnden Personen, die ernsthaft an einer Aufführung der Oper Romulus ed Ersilia arbeiten wollen, durch Eifersüchteleien und Intrigen vor existenzielle Probleme stellt, bringt das schadenfrohe Publikum zum Lachen.
Eine amüsante Farce
Zu Donizettis Lebzeiten wurde Viva la Mamma in Italien an allen Theatern gespielt. Erst nach 1850 geriet das Stück in Vergessenheit. 1963 wurde die Oper in Siena wiederentdeckt; eine deutsche Bearbeitung von Horst Goerges und Karlheinz Guttmann wurde erstmals 1969 von der Bayerischen Staatsoper im Cuvilliés-Theater aufgeführt. Seitdem ist Mamma Agata auch auf den deutschsprachigen Bühnen heimisch geworden, eine in ihrer Leidenschaft wie in ihrer Herrschsucht glänzendsten Rollenerfindungen des 19. Jahrhunderts. 1831 besuchte der französische Komponist Hector Berlioz eine Vorstellung in Neapel. Sein Urteil über Donizetti fiel schmeichelhafter aus als dasjenige von Felix Mendelssohn Bartholdy. Berlioz schrieb in seinen Memoiren: „Während ich in Neapel war, spielte man eine überaus amüsante Farce von Donizetti. Die Oper wird mit solchen Geist, Feuer und Brio gespielt, dass es fast jedem anderen Theater dieser Art überlegen ist“.

Donnerstag, 17. Februar 2011

Franz von Suppé BOCCACCIO


Die Uraufführung der Operette „Boccaccio“ in Wien am 1. Februar 1879 war ein Triumph für den Komponisten Franz von Suppé, der auch die musikalische Leitung übernommen hatte. In der Presse war zu lesen: „Das Ensemble war von Herrn Suppé auf das sorgfältigste einstudiert und mit derselben rhythmischen Schlagfertigkeit dirigiert, welche den Komponisten auszeichnet. Es ist eine wahre Lust für den musikalisch Gebildeten, Suppés plastisch-sicheren Taktstrich in seinen mannigfachen Variationen zu verfolgen. An dem Mann ist alles Nerv und Zuversicht. Als Operettendirigent ist Suppé heute wohl unübertroffen.“

Komponist mit accent aigue

Franz von Suppé wurde am 18. April 1819 im Städtchen Spalato in Dalmatien geboren, das damals zu Österreich gehörte und heute Split heißt. Sein Vater Pietro de Suppe, der italienisch-niederländische Vorfahren hatte und Staatsbeamter war, heiratete die Wienerin Katharina Landovsky. Das Taufprotokoll ihres zweiten Sohns verzeichnete die Geburt von „Francesco Ezechiele Ermenegildo de Suppe“. Mit diesem Dokument begann eine Merkwürdigkeit. Der Komponist schrieb seinen Nachnamen stets Suppè, also in italienischer Schreibweise, die obere Spitze des Akzents nach links geneigt. Auch seine ersten gedruckten Noten und Partituren zeigten es so. Kurioserweise nahmen die Verleger und Theaterdirektoren den Wunsch des Komponisten, seinen Namen so und nicht anders geschrieben zu sehen, nicht zur Kenntnis und nannten ihn Franz von Suppé mit accent aigue. Dem Komponisten blieb nichts anderes übrig, als es zu dulden.

Mit Jules Verne um die Welt

Als Kind bekam Suppé Flötenunterricht und studierte Komposition beim Chordirektor der Kathedrale von Spalato. Mit vierzehn Jahren schrieb er eine Missa dalmatica. Trotz seines großen musikalischen Talents beschloss der Vater, dass sein Sohn Rechtsanwalt werden sollte. Nach dessen Tod brach Suppé das Jurastudium ab und siedelte mit der Mutter 1835 nach Wien über. Nach einer musikalischen Ausbildung bei Simon Sechter wurde Suppé mit 21 Jahren als Kapellmeister an das Wiener Theater in der Josefstadt berufen. 1841 wurde sein erstes Singspiel Jung lustig, im Alter traurig uraufgeführt. 1845 wechselte Suppé als Kapellmeister an das Theater an der Wien, wo er eine Fülle von einaktigen Singspielen komponierte. Die Erfolge von Offenbachs abendfüllenden Operetten ermutigten Franz von Suppé, es ebenfalls mit abendfüllenden Dreiaktern zu versuchen: „Fatinitza“ und „Banditenstreiche“ wurden von allen Theatern nachgespielt. Bis zu seinem Tod in Wien am 21. Mai 1895 komponierte Suppé mehr als 180 Operetten, darunter „Eine Reise um die Welt“ in achtzig Tagen nach Jules Verne.

Ein Giovanni aus der Renaissance

Das Textbuch zu „Boccaccio“ verfassten die Librettisten Friedrich Zell und Richard Genée. Im Mittelpunkt der Handlung steht Giovanni Boccaccio (1313-1375), italienischer Schriftsteller und bedeutender Vertreter des Humanismus. Suppé fand Gefallen an dem Stoff und sah darüber hinweg, dass in der Handlung Bücher verkauft wurden; der Buchdruck wurde erst 100 Jahre später erfunden. Historisch verbürgt und in das Libretto eingebunden ist hingegen Boccaccios Liebe zu Fiametta, die Tochter des neapolitanischen Königs Robert von Anjou. Andere biografische Details stimmen nicht: Die Operette spielt 1331 und zeigt den Dichter Boccaccio im Alter von 18 Jahren. Im wirklichen Leben hielt sich Boccaccio im diesem Jahr nicht in Florenz auf. Er war bereits 1327 im Alter von vierzehn Jahren von seinen Eltern nach Neapel zur kaufmännischen Lehre in einer Bank geschickt worden und kehrte erst 1340 mit 27 Jahren nach Florenz zurück. Boccaccio ging in den Staatsdienst und trat 1360 in den geistlichen Stand ein. Davon wird in der Operette nicht berichtet, aber Suppé wollte auch keine Biographie vertonen, sondern ein Bühnenwerk komponieren, das von Boccaccios Meisterwerk „Das Decamerone“ inspiriert war.

Eine flatterhafte Gesellschaft

In seiner Sammlung von Novellen, die um 1350 entstanden, porträtierte Giovanni Boccaccio mit bis dahin unbekanntem Realismus die facettenreiche florentinische Gesellschaft des 14. Jahrhunderts. Zehn junge Leute beiderlei Geschlechts sind während der Pest 1348 aus Florenz aufs Land geflüchtet. Sie erzählen sich an zehn Tagen jeweils zehn Geschichten. Es entsteht eine große Vielfalt von feinen und derben, tragischen und komischen Novellen. Von diesen 100 Geschichten hat Boccaccio nur die allerwenigsten erfunden. Die Stoffe stammen aus arabischen, indischen, persischen, altfranzösischen und sonstigen Quellen; die Schauplätze umfassen nahezu die gesamte damals bekannte Welt. Das Besondere an Boccaccios Novellen ist ihr neuer Geist: In den Erzählungen der jungen Leute, die dem irdischen Leben zugewandt sind, überwinden die aus Daseinsfreude und eigener Entscheidung handelnden Personen das Mittelalter mit seinen moralischen und religiösen Schranken.

Tollpatschige Ehemänner

Das in der Szenenfolge abwechslungsreich gebaute Libretto zu „Boccaccio“ ist keine Vertonung von Novellen aus dem Decamerone; einzelne Motive werden im Textbuch lediglich als situationskomische Elemente in die Handlung eingefügt. Vordergründig geht es in Suppés Operette um Liebesaffären im Florenz der Renaissance; zwischen den Zeilen gelesen wird Kritik an der herrschenden Moral des ausklingenden 19. Jahrhunderts deutlich, in der Männer für sich eine erotische Libertinage in Anspruch nahmen, die sie ihren Frauen versagten. Die damalige Gesellschaftsordnung in Wien um 1880, in der die Männer das Sagen hatten, wird in „Boccaccio“ quasi auf den Kopf gestellt. In Suppés Operette werden die Ehemänner als dümmliche Tollpatsche gezeigt, ihre Ehefrauen verweigern sich den Zwängen veralteter Normen und zeigen sich an einem Seitensprung interessiert. In ihren Duetten und Terzetten besingen die Frauen im Dreivierteltakt die prickelnde Vorfreude auf ein außereheliches Rendezvous; die sauertöpfische Musik der Ehemänner bewegt sich in der biederen Sphäre des traditionellen Wiener Volkstheaters.

Erotische Gefühle

Die Partie des Boccaccio wurde von den Librettisten als Hosenrolle konzipiert. In den Operettenaufführungen von Franz von Suppé waren die Rocksäume immer weiter in die Höhe gerutscht und zeigten den männlichen Zuschauern das, was im Alltag verborgen blieb: Damenbeine. Um der Sittlichkeit zu genügen, maskierte man sie im Theater mit eng anliegenden Strumpfhosen. Doch auch diese verhüllte Form war dazu angetan, erotische Gefühle zu erwecken. Wenn die Sängerin Antonie Link in der Hosenrolle des Boccaccio zarte Küsse mit den anderen Damen austauschte, eröffnete sich dem Publikum ein weiteres Spektrum erotischer Möglichkeiten, das im Alltag tabuisiert war. Das Publikum nahm Suppés Operette begeistert auf. Die Kritik rühmte den kunstvollen Bau seiner Arien und Duette und die dramatische Spannkraft der Ensembleszenen. In seiner Musik verband Suppé die Klangreize des italienischen Belcantos geschickt mit dem Wiener Walzer- und Marschmilieu.

Eine Aufführung in Athen

Wenige Monate nach der Wiener Uraufführung wurde „Boccaccio“ in Berlin gespielt, es folgten Inszenierungen in London, Paris und New York. Zwischen dem 15. Februar und 9. März 1941 fand in Athen eine Aufführungsserie von Suppés Operette statt, an die sich niemand mehr erinnern würde, würde nicht der Theaterzettel die Mitwirkung einer jungen Sängerin verzeichnen, die zur Legende wurde. 1941 stand Europa im Zeichen des Zweiten Weltkriegs. Das Ensemble der Griechischen Nationaloper verließ sein Stammhaus in der Athener Konstantinou-Straße, weil das Theatergebäude keinen Luftschutzkeller hatte. Die Aufführungen fanden im Pallas Cinema statt. Als erste Premiere des Jahres 1941 war Suppés Operette „Boccaccio“ angesetzt. Die Partie der lebenslustigen Beatrice, Frau des Barbiers Scalza, wurde von der Sopranistin Nafsika Galanou einstudiert. Um sich im Fall einer Krankheit im Ensemble abzusichern, waren alle Rollen doppelt besetzt.

Karrierestart in einer Wiener Operette

Eine talentierte Nachwuchssängerin, die bei Schülerkonzerten des Athener Konservatoriums aufgefallen war, wurde als Zweitbesetzung für die Beatrice engagiert. Ihre Lehrerin Elvira de Hidalgo hatte ihrer erst siebzehnjährigen Schülerin den Vertrag vermittelt, damit sie Bühnenerfahrung sammeln konnte. Während der Proben erkrankte die Erstbesetzung Nafsika Galanou und wurde durch die Gesangsschülerin Maria Kaloyeropoulou ersetzt, die als Beatrice ihr offizielles Bühnendebüt gab. Auf einem Photo der Premiere wirkt die junge Sängerin beim Verbeugen im Kreis ihrer Kollegen glücklich und mit sich zufrieden. Nach der Aufführung schrieb ihre Lehrerin Elvira de Hidalgo, die als Sopranistin an der Mailänder Scala erfolgreich gewesen war, an ihre Schülerin: „Obwohl ich als gute Künstlerin angesehen wurde und die größten Künstler erlebt habe, spürte ich sofort, dass du etwas Besonderes und Unverwechselbares in dir trägst!“ Elvira Hidalgo hatte sich nicht geirrt. Die Athener Beatrice des Jahres 1941 wurde unter dem Namen Maria Callas zum Weltstar. Als die Sopranistin viele Jahre später zu den Erinnerungen an ihr Bühnendebüt befragt wurde, das in der Operette „Boccaccio“ von Franz von Suppé stattfand, sagte Maria Callas kurz und knapp: „Sie brauchten eine Beatrice und sie nahmen mich.“

Samstag, 15. Januar 2011

Eviva España DIE ZARZUELA





Mit der englischen und französischen Operette teilt die spanische Zarzuela das gleiche Schicksal: Sie ist über das eigene Land kaum hinausgedrungen. Einen Eindruck von ihrer mitreißenden Musik haben bei uns in den letzten Jahren vor allem die spanischen Sänger Placido Domingo, José Carreras und Montserrat Caballé in ihren Konzerten gegeben, in denen sie den musikalischen Kosmos der Zarzuela vorstellten, die mehr ist, als nur die spanische Form der Operette.

Brombeeren mit Musik

Die Wurzeln der Zarzuela liegen im 17. Jahrhundert, als die höfischen Dramen von Pedro Calderón de la Barca ihre Blüte erlebten. In diese Theaterstücke wurden Gesänge und kurze Musikeinlagen eingestreut. Die Aufführungen fanden zumeist im Palacio de la Zarzuela nahe bei Madrid statt, der von Brombeerhecken umgeben war. Der Name Zarzuela leitet sich deshalb von „zarzal“, zu Deutsch Brombeerstrauch ab, und „Zarzuela“ bedeutet „Brombeersträuchlein“. Aus den durch Musiknummern erweiterten Stücken von de la Barca mit mal tragischen, mal heiteren Sujets entwickelten sich im 18. Jahrhundert anspruchslose Singspiele mit volkstümlichem Einschlag und burlesken Szenen, die so genannten „Tonadillas“, was wörtlich übersetzt Liedchen bedeutet.

Pralles Leben

In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Madrid mit dem Teatro del Circo und dem heute noch existierenden und die Tradition pflegenden Teatro de la Zarzuela eigens Bühnen für eine neue Form des spanischen Musiktheaters errichtet. Im Lauf der Zeit hatten sich die „Tonadillas“ nach und nach in abendfüllende Stücke verwandelt – die „Zarzuela grande“ war geboren. Beibehalten wurde, um die Handlung voranzutreiben, der gesprochene Dialog. Aber die musikalischen Abschnitte nahmen mehr Raum ein. Nicht nur auf die Solisten warteten anspruchsvollere Aufgaben. Vor allem der Chor – in seiner Funktion als Vertretung des einfachen Volks – erhielt eine Bedeutung, die jener in der zeitgleichen italienischen Oper bei weitem überstieg, in der er als mehr oder weniger unbeteiligtes Kollektiv das dramatische Geschehen begleitete. Zudem wurden in Spanien im Gegensatz zur italienischen Oper keine Staatsaktionen wie in „Anna Bolena“ oder romantisierende Stoffe wie in „Lucia di Lammermoor“ zur Grundlage der Handlung gemacht, sondern in den Inhalten der Zarzuelas wurde die spanische Sache verhandelt, in spanischer Sprache und mit spanischen Menschen, die dem prallen Leben entsprungen waren. Beliebt bei den Theaterbesuchern war auch das sich parallel zur „Zarzuela grande“ entwickelnde einaktige „genero chico“, das auch „teatro por horas“, Stundentheater genannt wurde, weil die einstündigen Aufführungen nur vier musikalische Darbietungen pro Abend zuließen.

Spanische Glut

Ausschlaggebend für die Neuentwicklung der Zarzuela nach 1850 war das Schaffen von Francisco Asenjo Barbieri. Sein „Barberillo de Lavapiés“ (1874) gilt als Schlüsselwerk der Zarzuela. Der Friseur Lamparilla ist ein Bruder im Geiste des munteren Barbiers aus Sevilla à la Rossini. Bei Barbieri ist er aber kein Strippenzieher mehr, sondern ein verwegener Kritiker der Oberschicht, was nicht zuletzt am Stimmfach ablesbar ist; der Bariton bei Rossini hat sich bei Barbieri in einen Buffotenor verwandelt. Und während für Rossini die Stadt Sevilla nur die Folie für eine amüsante Handlung bildete, wurde in Barbieris „Barberillo de Lavapiés“ die bekannte spanische Stadt zum zentralen Ort der Verwicklungen um einen Barbier, der seinen Mund nicht halten kann: Lavapiés ist schließlich das Altstadtviertel von Madrid, wo das einfache Volk regiert. In der musikalischen Charakterisierung dieser Schicht geben die Tanzrhythmen Copla und Jota den Ton an, und Barbieri setzt die Glut Spaniens und seiner nicht weniger glutvollen Bewohner in einer mitreißenden Musik um. Barbieris Meisterwerk markierte die Wiederbelebung eines eigenständigen spanischen Theaters nach fast zweihundert Jahren der Bedeutungslosigkeit im europäischen Vergleich.

Lebensnahe Typen

Bis zum Ende des 19. Jahrhundert entwickelte sich die Zarzuela zum musikalisch und dramaturgisch unverwechselbaren Genre, das in Spanien bis heute den selben Ruf genießt wie in den deutschsprachigen Ländern die Operetten von Strauß, Kálmán und Lehár. Die in den Jahren nach 1880 komponierten Zarzuelas von Komponisten wie Ruperto Chapí, Federico Chueca und Jerónimo Giménez griffen den musikalischen und dramaturgischen Faden von Barbieri auf, dessen „Barberillo“ zum Vorbild einer ganzen Gattung wurde, so wie es „Die Fledermaus“ von Johann Strauß für die österreichische Operette war. Doch es gibt einen feinen Unterschied: In den Bühnenwerken der österreichischen Operettenkomponisten wird vor allem von den Liebesaffären der bürgerlichen Oberschicht und der Adligen erzählt. In der Zarzuela stehen dagegen deftige und lebensnahe Typen aus der Vorstadt im Mittelpunkt der Handlung, vom liebeshungrigen Alten über den korrupten Polizisten und den listigen Schneider bis hin zur verführerischen, wenn auch verheirateten Señorita. Personen der höheren Schichten sind nicht von vorneherein ausgeschlossen, doch stehen sie meist in schlechtem Licht da und sind von fragwürdiger Erscheinung.

Furiose Tanzszenen

Die Texte der Zarzuelas geben abgesehen von privaten Liebesgeschichten die Machtverhältnisse zwischen Oben und Unten in aller Deutlichkeit wieder und vermitteln etwas von den feudalen, patriarchalischen und kirchlichen Zwängen Spaniens, die in den gesungenen Arien, Duetten und Ensembles kritisiert werden. Darin gleicht die Zarzuela der Absicht des Komponisten Jacques Offenbach, der ein ähnliches Ziel hat: die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu hinterfragen. Doch während Offenbach zum Stilmittel von Karikatur und Ironie greift und die Handlungen seiner Operetten in das alte Griechenland verlegt, um sich über die Herrschenden im Gewand antiker Helden lustig zu machen, ist es in der Zarzuela das Volk selbst, das seine Vorstellungen einer freieren Gesellschaft formuliert. Je heftiger der äußere Druck ist, desto ausgelassener geht es auf der Bühne zu, wenn sich in furiosen Tanzszenen gegen die Herrschaftsstrukturen aufbäumt wird. Es handelt sich bei diesen raumgreifenden Tänzen nicht wie in der Wiener Operette um elegante Walzer-Einlagen, die das klassisch geschulte Corps de ballet auf Spitze vorführt, sondern um Rhythmen, die der spanischen Folklore entlehnt sind.

Pulsierende Rhythmen

Kritiker wie der Komponist Manuel de Falla waren allerdings um 1900 der Ansicht, dass sich die Zarzuela nicht aus echter Folklore speiste, sondern aus sentimentalisierten und trivialisierten Schablonen mit Neigung zu Salonmusik und Schlagerweisen bestand. Doch die reiche Palette der Musik und ihre Aufgabe ist vielseitiger, als Manuel de Falla zuzugeben bereit war. Die Musik zielt nicht nur darauf ab, die maßgeblichen Konflikte der Handlung in Arien und Duetten zum Klingen zu bringen, sondern sie drückt auch Haltungen aus, die den handelnden Hauptpersonen offiziell verwehrt sind. Die Musik macht sich stark für die Bedürfnisse, die den gesellschaftlichen Zwängen zum Opfer fallen. Kecke Spottlieder im Tarantellarhythmus, der pulsierende Rhythmus der Jota als Zeugnis klingenden Selbstbewusstseins des Volks und die faszinierende Klangwelt von Flamenco, Habanera, Seguidilla, Tango und Bolero lassen die musikalische Vielfalt der spanischen Welt im Wirbel von Tanz und Gesang plastisch entstehen. Gesungen wird von alltäglichen Begebenheiten und natürlich von der Liebe. In Romanzen und Duetten streiten sich die Liebespaare oder kommen sich wieder näher und träumen dann von einem gemeinsamen Leben.

Ekstatische Tanzgesänge

Dennoch sind die vielen Zarzuelas mehr als nur ein bunter Bilderbogen spanischer Gefühlssausbrüche. In den Tanzszenen, in denen die Haupt- und Nebenfiguren mit Chor und Ballett zu einer musikalisch-szenischen Einheit verschmelzen, wird allen gesellschaftlichen und politischen Widrigkeiten getrotzt. So erklärt es sich, dass viele Zarzuelas ihren musikalischen Höhepunkt in einem Volksfest haben. Es handelt hierbei um keine exklusiven Feste, wie der Ball von Prinz Orlofsky im zweiten Akt der „Fledermaus“, sondern um kalendarisch beglaubigte Feiern, die zum spanischen Jahreslauf gehören. In diesen Festen meist kirchlicher Prägung explodieren musikalisch die persönlichen Spannungen der unterdrückten Klassen und Gefühle. In den bisweilen ekstatischen Tanzgesängen der Zarzuela blitzt etwas vom Wunschbild einer klassenlosen Gesellschaft auf, in der Unrecht und Unterdrückung der Vergangenheit angehören.

Wünsche und Hoffnungen

Im Gegensatz zur Wiener Operette, die am Oben und Unten festhält, ein charmantes Bild der oberen Schichten entwirft und die gesellschaftlichen Gegensätze nicht in Frage stellt, zeigt die Zarzuela dem Volk und damit den Theaterbesuchern, was für eine Kraft und Potenz in ihnen steckt, wenn man sie nur lassen würde. Auf den vielen Festen, die in der Zarzuela gefeiert werden, tanzen mit feurigen Rhythmen Adlige, Vermögende, Blumenhändler, Fabrikmädchen, Eselstreiber und Lotterieverkäufer das Ende des Standesunterschiedes herbei: Bolero und Fandango einigen für einen kurzen Augenblick die spanische Gesellschaft und heben soziale Gegensätze auf. Die Zarzuela zeigt in diesen Momenten die Sehnsucht nach einer anderen Gesellschaftsordnung. Sie spiegelt als Volkstheater im besten Sinne gesellschaftliche Wünsche und Hoffnungen wieder und erträumt im musikalisch-tänzerischen Miteinander Utopien. Aber sie weist nicht den Weg dorthin. Um mehr als ein privates Glück zu finden bedarf es ganz anderer Mittel, als es die Zarzuela als Katalysator unerfüllter politischer Hoffnungen vermag.

Johann Strauß PRINZ METHUSALEM


Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“ war bei der Erstaufführung in Wien 1860 ein sensationeller Erfolg. Johann Strauß Sohn, der seinen Ruhm seinen Walzern, Polkas und Märschen verdankte, blickte neidisch auf den Konkurrenten aus Paris. Strauß beschloss, ebenfalls Operetten zu komponieren, um seinen Ruf, der führende Komponist von Unterhaltungsmusik seiner Zeit zu sein, nicht zu gefährden. Doch den Plan auch für das Theater zu schreiben, schob er viele Jahre vor sich her, weil er Zweifel daran hegte, ob sich seine Tanzmusik, wenn sie mit Gesangsversen versehen wurde, auf der Bühne behaupten könnte.

Debüt mit 46 Jahren

Nachdem auch der Wiener Komponist Franz von Suppé begonnen hatte, Operetten zu schreiben, sah sich Johann Strauß gezwungen, in die Offensive gehen. Seine Ehefrau Jetty bat den Theaterdirektor Maximilian Steiner, Buch und Gesangsverse für die Operette „Indigo und die vierzig Räuber“ zu liefern, mit der Strauß 1871, im Alter von 46 Jahren, sein Debüt als Komponist von Operetten gab. 1873 folgte „Der Karneval in Rom“. Mit der 1874 uraufgeführten „Fledermaus“ konnte Johann Strauß endgültig beweisen, dass er nicht nur eingängige Tanzmusik zu komponieren vermochte, sondern das Talent besaß, Figuren musikalisch zu charakterisieren und auf der Bühne dramatische Spannung zu erzeugen.

Wiener Operette à la Offenbach

Das hochgesteckte Ziel mit seinen Operetten auch Paris zu erobern, um Jacques Offenbach an seiner ureigensten Wirkungsstätte Paroli bieten zu können, schien in greifbare Nähe gerückt zu sein, als 1875 „Indigo und die vierzig Räuber“ am Pariser Théâtre de la Renaissance unter dem französischen Titel „La Reine Indigo“ aufgeführt wurde. Strauß, der zu den Proben nach Paris gereist war, berichtete in einem Brief nach Wien an den Textdichter Richard Genée von einem „größtmöglichen Erfolg“ und äußerte den Wunsch, als nächstes eine „typische französische Operette“ zu komponieren. Was Strauß als typisch für die französische Operette ansah, führte er nicht näher aus. Vermutlich dachte er an ein Bühnenwerk, das sich durch parodistische und satirische Elemente auszeichnete. Genée bot ihm ein Libretto an, das auf Eugène Scribes Textbuch zur komischen Oper „La Circassienne“ basierte, das Daniel-François-Esprit Auber 1861 vertont hatte. Darin verkleidet sich ein Soldat als Frau, um seiner Geliebten nahe zu sein. Strauß lehnte den Textentwurf ab. Genée reichte das verschmähte Textbuch an Franz von Suppé weiter, der es 1876 unter dem Titel „Fatinitza“ vertonte und damit Triumphe feierte. Nun schaltete sich Franz Jauner ein. Er war als Direktor des Wiener Carl-Theaters an der Aufführung einer neuen Strauß-Operette und den damit zu erwartenden hohen Einnahmen sehr interessiert, und hatte zudem erfahren, dass Johann Strauß eine Operette im französischen Stil komponieren wollte. Franz Jauner beauftragte die Pariser Librettisten Victor Wilder und Alfred Delacour, die bereits an der französischen Fassung der „Fledermaus“ arbeiteten, ein Libretto für Johann Strauß zu schreiben, dessen satirische Seitenhiebe auf Politik und Militär entfernt an Offenbachs Operette „Die Großherzogin von Gerolstein“ erinnern.

Eine missliche Lage

Die beiden Herrscher der Königreiche Rikarak und Trocadero haben beschlossen, dass Prinz Methusalem mit Prinzessin Pulcinella in den Stand der Ehe treten. Nach der Hochzeit sollen beide Länder friedlich vereinigt werden. Die Realisation erweist sich als schwierig: Methusalem und Pulcinella haben ihre eigenen Pläne, und als in beiden Staaten revolutionäre Unruhen ausbrechen, geraten die Könige in eine missliche Lage. Die Uraufführung in Paris vor Augen, begann Strauß nach Erhalt des in französischer Sprache geschriebenen Librettos mit der Vertonung, doch die Arbeit geriet ins Stocken. Da Strauß kein Französisch sprach, hatte er Schwierigkeiten, die in einer ihm unbekannten Sprache verfassten Verse mit Musik zu versehen. Es half wenig, dass seine Ehefrau Jetty die Gesangstexte sinngemäß ins Deutsche übertrug. Um die Partitur zu „Prinz Methusalem“ beenden zu können, ließ Strauß sich von Carl Treumann die französischen Texte übersetzen. Nach Fertigstellung seiner neuen Operette nahm der Komponist Verhandlungen mit Pariser Theaterdirektoren auf, die keinerlei Interesse daran zeigten, „Prinz Methusalem“ in Frankreich aufzuführen. Franz Jauner bot daraufhin Strauß an, die Weltpremiere im Wiener Carl-Theater stattfinden zu lassen.

Politische Anspielungen

Die Uraufführung von „Prinz Methusalem“ am 3. Januar 1877 unter der musikalischen Leitung von Johann Strauß wurde vom Wiener Publikum mit Zustimmung aufgenommen, die Kritiker verhielten sich in ihren Besprechungen zurückhaltend. Sie konnten mit dem ursprünglich für eine Aufführung in Paris konzipierten Libretto wenig anfangen, das mit Anspielungen auf die nach dem Deutsch-Französischen Krieg immer noch herrschenden politischen Spannungen zwischen den beiden Völkern aufwartete. Die Phantasiestaaten Rikarak und Trocadero stehen für das neu gegründete Deutsche Reich unter der Führung von Preußen, das als Militärmacht galt, und Frankreich, dessen Hauptstadt Paris das Zentrum der Kunst, der Musik und des Theaters war. In der Strauß-Operette beklagt Cyprian von Rikarak den Überschuss von Soldaten auf seinem Territorium, der König von Trocadero ist hingegen unglücklich darüber, dass es in seinem Reich so viele Künstler gibt. Die für eine französische Operette typischen Elemente des Zeitbezugs und damit verbundener aktueller politischer Anspielungen im satirisch-ironischen Stil der Offenbachiaden war für die biedere Wiener Operette etwas gänzlich Neues. Auch die karikierende Darstellung staatstragender Persönlichkeiten hatte es bislang nicht gegeben. Prinz Methusalems altersschwacher Vater Cyprian wird von seiner Ehefrau Sophistika gegängelt, sein eitler Schwiegervater Sigismund wird durch sein skurriles Machtstreben zu einer lächerlichen Figur. Hinzukommen die Gegensätze von Jung und Alt und deren andersgeartete Vorstellungen vom Leben. Da die Hauptpartie des „Prinz Methusalem“ als Hosenrolle für eine Mezzosopranistin konzipiert war, wurde aus dem Königssohn ein verträumter Held, der Sinnlichkeit über Politik stellt; die zärtlichen Gesänge mit Prinzessin Pulcinella galten nach damaligem Verständnis als pikant.

Süße Romanzen

In seiner gleichzeitig liebenswürdig-absurden wie reizvoll-erotischen Musik suchte Johann Strauß die gleichberechtigte Koexistenz von melodienseligen Wiener Tanzweisen und pulsierendem Pariser Flair. Neben dem für ihn typischen Walzer stehen große, rhythmisch geprägte Szenen. Die Hochzeitsfeier explodiert in einem berauschendem Ensemble à la Offenbach, in dem der Krieg als Salonereignis auf die Schippe genommen wird. Während Methusalem und Pulcinella von ihrer Liebe in süßen Romanzen singen, die eine an französische Musik gemahnende Leichtigkeit erreichen, sind König Sigismunds Couplet „Das Tipferl auf dem I“ und Prinz Methusalems „Generalslied“ der deftigen Sphäre des Wiener Volkstheaters zuzuordnen. So führte nicht nur die Handlung mit ihren aktuellen Anspielungen, sondern auch die Musik bei den Kritikern zu geteilten Meinungen. Die einen sprachen von „hüpfenden Melodien auf einen langweiligen Text“, die anderen lobten die „geschickt und stimmungsvoll komponierten Finali“. Eduard Hanslick schrieb in seiner Uraufführungskritik: „Strauß, der schon von Hause aus als Walzerkomponist sich durch Sorgfalt und Geschmack in der Instrumentierung hervortat, hat auch im Methusalem diese Erwartung nicht getäuscht. Das Orchester blinkt und glitzert von feinen Klangeffekten.“ Der ganz große Erfolg wollte sich dennoch nicht einstellen. „Prinz Methusalem“ brachte es in Wien auf nur 69 Vorstellungen. Das Illustrierte Wiener Extrablatt fasste die Situation von Johann Strauß zusammen: „Der Wiener Kompositeur par excellence wollte Offenbach der Zweite werden, aber er blieb Strauß der Erste. So sehr er es auch wollte, er konnte seine künstlerische Individualität nicht verleugnen.“

Paris bleibt stumm

Wenige Tage nach der Wiener Uraufführung begab sich Strauß nach Paris, um mit seinem Orchester auf Maskenbällen aufzuspielen. Er führte Gespräche mit den französischen Librettisten Victor Wilder und Alfred Delacour, die auf Grundlage der Partitur zu „Prinz Methusalem“ die französischen Gesangstexte überarbeiten und revidieren sollten, um eine Aufführung in Paris zu ermöglichen. Wenige Monate später reiste Strauß nochmals in die französische Hauptstadt, um die für den 30. Oktober 1877 anberaumte Pariser Erstaufführung seiner „Fledermaus“ unter dem französischen Titel „La Tsigane“ zu besuchen. Bei einer erneuten Zusammenkunft mit den Librettisten musste Strauß feststellen, dass die französische Umarbeitung von „Prinz Methusalem“ bruchstückhaft geblieben war. Strauß zog seine Partitur zurück, zu seinen Lebzeiten wurde „Prinz Methusalem“ in Paris nicht aufgeführt.