Sonntag, 3. November 2019


Emmerich Kálmán
DIE ZIRKUSPRINZESSIN




  
„Wird es ein Mariza-Erfolg?“, fragte der Musikjournalist Ludwig Hirschfeld zu Beginn seiner Kritik in der Zeitung Neue Freie Presse am Tag nach der 1926 erfolgten Uraufführung von Emmerich Kálmáns Operette Die Zirkusprinzessin. Mit dieser berechtigten Frage bezog er sich auf Kálmáns zwei Jahre zuvor ebenfalls in Wien begeistert aufgenommenen Erfolgsstück Gräfin Mariza. Jede Uraufführung war ein Risiko, ob sie den Geschmack des Publikums nun traf oder nicht. Die damaligen Wiener Operettentheater waren nicht subventioniert und Beispiele gibt es reichlich, wo die Hoffnungen sich nach der Premiere nicht erfüllten, die der Komponist, die Librettisten und die Künstler, aber auch die auf die Kasseneinnahmen angewiesenen Direktoren, darauf gesetzt hatten.
Emmerich Kálmán und seine Textdichter Julius Brammer und Alfred Grünwald verfügten allerdings über ein erprobtes Konzept, um sich einen Erfolg zu sichern. Das bestätigte ihnen Ludwig Hirschfeld in seiner Rezension: „Die beiden Librettisten wissen, was sie zu tun haben. Ihnen ist die tiefe Tantiemeneinsicht gegeben, dass auf dem Theater nur der immer wieder neue Erfolge hat, der nichts Neues bringt.“ Dementsprechend glich der dramaturgische Aufbau der Zirkusprinzessin dem Inhalt von Gräfin Mariza. Dort war es der ungarische Graf Tassilo, der in Inflationsjahren, die auf den Ersten Weltkrieg folgten, sein Vermögen verlor und sich in der ungarischen Puszta unerkannt unter falschem Namen als Verwalter von Gräfin Marizas Gutshof sein Geld verdient und mit ihr anbandelt. In der Zirkusprinzessin ist es der Adlige Fedja Palinski, der in der Maskerade des Zirkusreiters Mister X die Fürstin Fedora umwirbt.

Liebe auf den zweiten Blick

Die Handlung der Zirkusprinzessin beginnt im Foyer des Zirkus Stanislawski in St. Petersburg im Jahr 1912. Die Hauptattraktion in der Manege ist der stets mit einer schwarzen Gesichtsmaske auftretende Mister X, der jeden Abend tollkühne Reit- und Sprungkunststücke vorführt. Fürstin Fedora, deren Ehemann vor einigen Jahren verstorben ist, besucht eine Vorstellung. Was sie nicht weiß: Ihr ehemaliger Gatte enterbte seinen Neffen Fedja Palinski und brachte ihn auch um seine Offizierskarriere, weil dieser sich in Fedora verliebte, obwohl er sie nur ein einziges Mal aus der Ferne sah – und sie ihn dadurch gar nicht kennt. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern ging Fedja als Mister X zum Zirkus. In Fedoras Begleitung ist Prinz Sergius, der ein Auge auf die vermögende Witwe geworfen hat. Mister X wird Fedora vorgestellt und erschrickt, als er ihren Namen erfährt. Kurz danach teilt sie Prinz Sergius mit, dass sie niemals seine Frau werden wird. Um sich für die Zurückweisung zu rächen, lädt Sergius den geheimnisvollen Mister X zu einem Fest ein. Er soll sich dort als Prinz Korrossoff ausgeben und Fedora den Hof machen. Mister X willigt ein, da er ihr auf diese Weise nah sein kann. Im zweiten Akt lässt Prinz Sergius im Ballsaal seines Palais Fedora einen erfundenen Befehl von allerhöchster Stelle überreichen, der sie verpflichtet, schon morgen einen Mann zu heiraten, den der russische Zar für sie bestimmen wird. Eine Weigerung ist ausgeschlossen. Sergius rät ihr, diesem Befehl dadurch zuvorzukommen, dass sie sich sofort mit Fürst Korrossoff trauen lässt. Fedora, der Prinz Korrossoff nicht gleichgültig ist, wobei sie nicht weiß, dass er mit Mister X identisch ist, stimmt der Hochzeit zu. Die Trauung wird vollzogen. Erst durch die als Gratulanten auftretenden Zirkusleute erfährt Fedora, dass ihr Gatte der bekannte Zirkusreiter ist, und wird von der ebenfalls anwesenden adligen Gesellschaft als Zirkusprinzessin verspottet. Mister X versichert ihr zwar seine Liebe und gibt sich als Fedja Palinski zu erkennen. Die durch den Verrat tief getroffene Fedora verlangt jedoch die sofortige Trennung. Der dritte Akt spielt in der Empfangshalle des noblen Hotels Erzherzog Carl in Wien. Prinz Sergius logiert dort in der Hoffnung, dass Fedora nun die seine wird, die sich ebenfalls in Wien aufhält, da Mister X dort gastiert und den sie nicht vergessen kann. Das Happy End lässt nicht lange auf sich warten. Nach einer kurzen Aussprache umarmt der glückliche Fedja Palinski seine für immer verloren geglaubte Ehefrau Fedora. Prinz Sergius hat das Nachsehen.

Hans Moser als Pelikan

Es war nicht nur die klischeehafte Handlung, die zum Erfolg der Uraufführung der Zirkusprinzessin im Theater an der Wien beitrug. Auch die mitwirkenden Künstler hatten ihren Anteil daran. So übernahm Elsie Altmann die Partie der Mabel. Sie war mit dem Wiener Architekten Adolf Loos verheiratet, einer der Wegbereiter der modernen Architektur und seiner Zeit oft weit voraus. Da in den Zwanzigerjahren viele seiner Entwürfe nicht realisiert wurden, übernahm es seine Ehefrau, durch ihre Auftritte im Theater den gemeinsamen Lebensunterhalt zu finanzieren. Als Toni Schlumberger war der Tenorbuffo Fritz Steiner zu erleben, der einige Jahre später zum Ensemble der Uraufführung von Paul Abrahams Operette Die Blume von Hawaii gehörte. In der Partie des Mister X betrat der Hubert Marischka, gleichzeitig Direktor des Theaters an der Wien, die Bühne. Er hatte bereits in der Weltpremiere der Gräfin Mariza die Partie des Tassilo gesungen, genoss Starruhm und in der Premierenbesprechung der Wiener Zeitung war zu lesen: „Seine musikalische Ausdruckskraft, seine Liebenswürdigkeit, selbstverständlich auch seine Tanzkunst, vereinigen sich zu einem auf der Operettenbühne kaum noch stärker zu denkenden künstlerischen Eindruck.“ Betty Fischer, die bereits als erste Mariza Theatergeschichte geschrieben hatte, war nun Fürstin Fedora. Die Wiener Zeitung geriet über ihren Auftritt ins Schwärmen: „Sie trägt eine Anzahl herrlicher Kostüme und Kleider – eine Augenweide von Anmut, Grazie und Eleganz.“ Da wie in vielen Operetten der dritte Aufzug sehr kurz war, weil es bis auf das Happy End nichts mehr zu erzählen gab, führte erstmals Johann Strauß im Finalakt seines Erfolgsstücks Die Fledermaus den sogenannten Dritte-Akt-Komiker ein. Dessen Aufgabe war es, die immer schütterer werdende Handlung durch Witze und Bonmots zu bereichern. Bei Strauß übernahm das der umtriebige Gefängniswärter Frosch, in der Zirkusprinzessin sorgte ein Oberkellner namens Pelikan für Lacher im Publikum. Die Rolle spielte der heute legendäre, auch bereits als Frosch gefeierte Komiker Hans Moser.

Pikant und charmant

Auch in der Musik folgte Emmerich Kálmán der von Ludwig Hirschfeld formulierten Erfolgsstrategie „das, was wirkt und immer wieder wirkt, was gefällt und immer wieder gefällt.“ Toni Schlumbergers Chanson „Die kleinen Mäderln im Trikot“ sind den „Mädis vom Chantant“ aus Kálmáns Csárdásfürstin nachgebildet, das Auftrittslied des Mister X „Zwei Märchenaugen wie die Sterne so schön“ erinnert auch im musikalischen Duktus an Tassilos Lied „Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen im schönen Wien“ aus Gräfin Mariza. Und sowohl die Musik zum Walzerduett „Leise schwebt das Glück vorüber“ als auch die zum Buffo-Duett „Liese, komm mit auf die Wiese“ entnahm der Komponist den Skizzen zu seiner zuvor erfolgreichen Puszta-Operette. Auch alles weitere war wieder die bereits in seinen anderen Operetten mehrfach erprobte und erfolgversprechende musikalisch abwechslungsreiche Mischung aus Duetten im Dreivierteltakt („Mein Darling muss so sein wie du“), zündenden Märschen („Mädel gib acht, schließ dein Fenster heute Nacht“) und Kompositionen im Stil damals moderner Tanzschlager („Wenn du mich sitzen lässt, fahr ich sofort nach Budapest“). Ludwig Hirschfeld fasste seine Eindrücke zusammen: „Es ist wirklich nicht möglich, alle die unbestreitbar pikant erfundenen, rhythmisch unwiderstehlich aufgemachten Musiknummern anzuführen. In Summa: Kálmán ist gewiss im neuen Werk auf seiner Höhe, aber auch nicht um eine Linie weitergekommen.“ Das spornte den Komponisten an, sich musikalisch weiterzuentwickeln.
Das Resultat seiner Bemühungen war 1928 Die Herzogin von Chicago. Darin löste sich Kálmán vom ungarischen Kolorit seiner Musik und huldigte dem Jazz. Der Charleston löste den Csárdás ab, das Saxophon das Zymbal. Die Handlung um die amerikanische Supermillionärin Mary Lloyd, die sich in Europa einen echten Prinzen kaufen möchte, spielte mit den Gegensätzen zwischen der alten und neuen Welt, jonglierte mit Sarkasmus und Ironie, und war meilenweit entfernt von der klischeebeladenen Lovestory zwischen einem Zirkusreiter und einer russischen Fürstin. Das Ergebnis war ein veritabler Flop. Die Herzogin von Chicago wurde erst vor einigen Jahren als eine von Kálmáns musikalisch wie szenisch besten Operetten wiederentdeckt, im Gegensatz zur Zirkusprinzessin, die Ludwig Hirschfelds Frage „Wird es ein Mariza-Erfolg?“ bereits am Abend der Uraufführung mit Ja beantwortete. Nachdem sich am 26. März 1926 der Vorhang zur Weltpremiere öffnete – und Kálmáns Operette somit vor wenigen Tagen ihren 90. Geburtstag feierte –, wurde sie bis heute unzählige Male aufgeführt. Sie überzeugt mit musikalischem Esprit, rhythmischem Elan und Schwelgen in Walzerseligkeit, und beweist, dass Operette keine Musik zweiter Klasse bietet.




Paul Abraham
VIKTORIA UND IHR HUSAR





Sensation in Berlin! Am 16. Dezember 1929 flimmerte im UFA-Palast am Zoo der erste deutsche Tonfilm über die Leinwand. In der Liebesromanze Melodie des Herzens waren die Dialoge nun zu hören, bisher wurden sie im Stummfilm auf Zwischentiteln angezeigt. Verständlicherweise waren die Kinobesucher davon begeistert, doch dabei blieb es nicht. Um die neuen akustischen Möglichkeiten voll auszukosten, kamen Tonfilmschlager dazu. Die lieferten in diesem Fall die Komponisten Werner Richard Heymann und Robert Stolz. Auch Paul Abraham erhielt von den Filmproduzenten einen Auftrag. Schließlich spielte die Handlung von Melodie des Herzens in der Puszta und der 1892 in Serbien geborene Komponist sollte einen ungarisch gefärbten Tonfilmschlager beisteuern. Abraham ließ dafür ein Lied aus seiner im Oktober 1928 in Budapest uraufgeführten Operette Az utolsó Verebély lány (Das letzte Verebély-Mädchen) mit einem deutschen Text versehen. Willy Fritsch, der männliche Hauptdarsteller von Melodie des Herzens fiel die Ehre zu, ihn auf der Leinwand erstmal zu interpretieren. Der Schlager „Bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier, sondern nur ein ungarischer Honved-Offizier“ war dann Paul Abrahams erster Erfolg in Deutschland.
Von 1910 bis 1916 studierte er in Budapest Komposition. Danach folgte ein Engagement am Operettentheater in Budapest als Kapellmeister, aber auch als Hauskomponist, und dadurch schuf er erste Beiträge zur Unterhaltungsmusik. Viktoria und ihr Husar, mit der Abraham zu Beginn der Dreißigerjahre auf den Theaterbühnen seinen Durchbruch erlebte, war bereits seine vierte abendfüllende Operette. Uraufgeführt wurde sie in ungarischer Sprache im Februar 1930 in Budapest unter dem Titel Viktória.

Flucht ins Happy End

Die Handlung thematisierte die Zerrissenheit der Menschen, die nach dem ersten Weltkrieg mit einer aus den Fugen geratenen Welt zu kämpfen hatten. Auch der Kriegsheimkehrer Stefan Koltay wird mit einer veränderten Realität konfrontiert, sein Leben im Frieden entwickelt sich ganz anders als gedacht. Nach der Flucht aus russischer Kriegsgefangenschaft verschlägt es ihn nach Japan, wo er seiner ehemaligen Verlobten Viktoria begegnet. Da sie ihn für tot gehalten hat, ist sie mittlerweile die Gattin des amerikanischen Gesandten Cunlight geworden, mit dem sie in Tokio lebt. Koltay versucht, Viktoria zu überreden, mit ihm nach Ungarn zu fliehen. Sie aber ist entschlossen, an ihrer Ehe mit Cunlight festzuhalten, weil sie sich dazu verpflichtet fühlt. Erst viele Monate später kommt es in einem ungarischen Dorf zum Happy End. Cunlight verzichtet großmütig auf seine Rechte an Viktoria. Das Liebespaar ist wieder vereint.

Mit ungarischem Kolorit

Die deutschsprachige Erstaufführung von Viktoria und ihr Husar fand im Juli 1930 im Rahmen von Operettentagen am Stadttheater von Leipzig statt. Um dem Premierenabend einen besonderen Glanz zu verleihen, wurden hierfür Stars aus der damaligen Operettenmetropole Wien engagiert. Sie waren es, die erstmals in Deutschland die Arien und Duette anstimmten, die heutzutage zu Recht das Etikett Evergreen tragen. Man denke nur an „Mausi, süß warst du heute Nacht“, „Nur ein Mädel gibt es auf der Welt“ und „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“. Die Aufführung war ein grandioser Erfolg, bereits wenige Wochen später wurde das Ensemble auch am Berliner Metropol-Theater bejubelt. Anschließend brachte das Theater an den Wien Viktoria und ihr Husar heraus. Es folgten Aufführungen in London und Paris. Selbstverständlich griffen auch die deutschen Stadttheater zu und setzten die Novität auf ihre Spielpläne. Die Tantiemen sprudelten und der Komponist ließ sich in Berlin nieder, um dort das angenehme Leben eines erfolgreichen Unterhaltungskomponisten zu führen.
Zum Erfolg von Viktoria und ihr Husar trug bei, dass Paul Abraham mit seiner Musik etwas gänzlich Neues schuf. Abraham bereicherte das Genre der Operette mit bis dahin nicht für möglich gehaltene Klangfarben: Celesta, chinesische Trommeln, Vibraphon, Banjo, Hawaii-Gitarre, Saxophone. All dies gehörte zum Instrumentarium seiner Partitur und so glich sein Orchester mehr einer Jazzkapelle, wie überhaupt seine Musik viele Bezüge zum amerikanischen Jazz aufwies. Die heute noch existierenden Originalaufnahmen jener Jahre, die unter Abrahams persönlicher musikalischer Leitung auf Schellackplatten eingespielt wurden, zeigen eine ganz individuelle musikalische Handschrift. Eine gekonnte Synthese aus asiatischen Klängen, ungarischem Kolorit und amerikanischem Jazz. Gleiches lässt sich über seine ebenfalls erfolgreichen Operetten Die Blume von Hawaii und Ball im Savoy sagen. Weil aber Paul Abrahams Karriere in Deutschland 1933 endete und sein Name sich aufgrund seiner jüdischen Abstammung auf der Liste der nunmehr verbotenen Komponisten wiederfand, wurde in der Folge auch das gedruckte Orchestermaterial im Auftrag der neuen Machthaber vernichtet.
In der Nachkriegszeit, als Abrahams Bühnenwerke wieder gespielt werden durften, erwies sich ihre musikalische Renaissance jedoch als fragwürdig. Der Komponist befand sich zu jener Zeit im amerikanischen Exil und seine inmitten der überbordenden Lebensfreude der Weimarer Republik entstandenen Partituren wurden nun von dritter Hand durch verfälschende Arrangements klanglich geglättet und versüßlicht. Abrahams filigrane, orchestral sich dem Swing annähernden Instrumentierungen verschwanden in riesigen Streicherteppichen. Die Jazzelemente wurden gezähmt und auf Linie gebürstet. Heraus kam ein schier unsäglicher Kitsch, der Abrahams brillante Klangfarben verwässerte und sie ins Seichte und Sentimentale abrutschen ließ. Das Kecke, Freche und Frivole, was seine Musik auch auszeichnete, ging dadurch völlig verloren.
 
Ein trauriges Schicksal

Eingreifen konnte Paul Abraham nicht und er hatte von der Umformung seiner Partituren auch keine Ahnung, denn er war in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgrund von nervlicher Zerrüttung in einem amerikanischen Sanatorium untergebracht. Zuvor hatte er nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland noch einige Jahre in Österreich verbringen können, wo er in Wien drei weitere Operetten zur Uraufführung brachte. In letzter Sekunde schaffte er es 1938 nach Kuba zu entkommen. Schließlich verschlug es ihn nach New York, wo er mittellos und ohne reguläre Einnahmen ein Dasein als Barpianist fristete. Wie viele andere Exilanten, auch die der Unterhaltungsmusik, konnte er in Amerika nicht Fuß fassen. Außerdem war sein Name dort völlig unbekannt, und Paul Abraham war durch die Flucht künstlerisch am Ende – ein verloschener Vulkan.Mehr und mehr versank er in Psychosen. Seine Krankheit nahm groteske Formen an. Er halluzinierte, dass er sich mit einer bekannten Hollywooddiva verlobt habe und lud alle möglichen Leute für den nächsten Tag zu seiner Hochzeit ein. Und als er sich eines nachts mitten auf die Madison Avenue stellte, um ein imaginäres Orchester zu dirigieren, war das Maß voll. Herbeigerufene Polizisten nahmen ihn fest und lieferten ihn in die geschlossene Abteilung eines New Yorker Krankenhauses ein. Hier verbrachte er mehrere Jahre seines Lebens und erst in den Fünfzigerjahren erinnerte man sich in der Bundesrepublik an den Komponisten, den man in Deutschland zwischenzeitlich sogar für tot gehalten hatte. Erst auf Initiative einer Filmfirma, die eine Neuverfilmung der Blume von Hawaii plante, wurde Abraham in New York ausfindig gemacht.1956 kehrte er mit mittlerweile 58 Jahren nach Deutschland zurück und fand in einem Hamburger Sanatorium eine liebevolle Betreuung. Auch eine kleine Entschädigungsrente wurde ihm genehmigt, ebenso erhielt er wieder die ihm zustehenden Tantiemen, aber Paul Abraham nahm die neuerliche Begeisterung des Publikums für sein Schaffen nicht mehr wahr. Am 6. Mai 1960 starb er an einer Krebserkrankung.

Die rekonstruierte Fassung

In unserer Zeit sind seine Operetten auf den Bühnen immer noch sehr vital, doch seine Originalpartituren, auch die von Viktoria und ihr Husar, sind verschollen und die in den Nachkriegsjahren angefertigten Neuarrangements genügen nicht mehr heutigen Ansprüchen. Um den Originalsound aber wieder verfügbar zu machen, kam es in den vergangenen Jahren zu Rekonstruktionen seiner Partituren. Einen Ansatz dazu bildeten die historischen Schallplattenaufnahmen seiner Operettenschlager unter Paul Abrahams persönlicher musikalischer Leitung, die wichtige Details über die ursprüngliche Orchesterbesetzung offenlegten. Mit Hilfe dieser Informationen sowie mit Notenmaterial aus den Dreißigerjahren, das in ungarischen Theaterarchiven, teils zerfleddert, entdeckt wurde, gelang es den beiden Arrangeuren Matthias Grimminger und Henning Hagedorn im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks, Abrahams Musik von den verfälschenden Neuinstrumentierungen zu befreien und den originalgetreuen Orchesterklang wieder hörbar zu machen. Sie widmeten sich auch Viktoria und ihr Husar. Ein über die Jahrzehnte immer wieder zugekleistertes und übermaltes Bühnenwerk erklingt nun wieder im locker swingenden Sound seiner ursprünglichen Form: frech, mondän und vorlaut.








Jacques Offenbach
FANTASIO





Jacques Offenbachs Werkkatalog sorgt immer wieder für Überraschungen. Zwischen der turbulenten Can-Can-Heiterkeit von »Orpheus in der Unterwelt« einerseits und der von tiefen Gefühlen durchzogenen Oper »Hoffmanns Erzählungen« andererseits existieren im Oeuvre des äußerst produktiven Kölner Kantorensohns und Wahlfranzosen so manche Zwischentöne. In seinem 1872 in Paris uraufgeführten Dreiakter »Fantasio« begegnet man einem Offenbach jenseits von Parodie und politisch-kultureller Satire, durch die er bekannt wurde. Auch musikalisch beschritt er darin andere Wege. Zwar gibt es in »Fantasio« auch einige burleske Szenen mit Verkleidungs- und Rollentauschsituationen. Dennoch ist das Werk keine typische opéra bouffe, wie man sie von ihm kennt, angereichert durch pikante Chansons und neckische Tanzcouplets. »Fantasio« ist musikalisch, aber auch hinsichtlich des Handlungsverlaufs, mit dem Genre der französischen opéra lyrique verwandt, in der zu Gunsten von Seelenkonflikten, in denen sich die Hauptfiguren befinden, eine äußerliche Operndramatik mit grellen Effekten in den Hintergrund gedrängt wird.

Liebesqualen

Die Handlung von »Fantasio« folgt einem 1834 entstandenen, gleichnamigen Schauspiel von Alfred de Musset, einer der größten Dichter der französischen Romantik. Eine bayerische Prinzessin und der ihr unbekannte Student Fantasio lernen sich auf ungewöhnliche Art und Weise kennen. Er steht unter ihrem Balkon, sie können sich nicht sehen und so verlieben sie sich singend nur über ihre Stimmen ineinander. Die Prinzessin darf ihr privates Glück aber nicht ausleben. Die Staatsraison fordert von ihr die Heirat mit dem Prinzen von Mantua. Fantasio gibt sich nun als Hofnarr aus, um seiner Angebeteten nahe sein zu können und die Zwangsehe zu verhindern.
Offenbachs Librettisten Paul de Musset, der Bruder von Alfred de Musset, und Charles Nuitter, der Archivar der Pariser Oper, folgten für ihre Transformation von Mussets Komödie in ein musikalisches Bühnenwerk weitgehend der von ihm entworfenen Handlung, die auch in der Vertonung in Bayern angesiedelt wird. In einem entscheidenden Punkt wichen sie aber davon ab. Mussets Schauspiel endet damit, dass Studenten jubelnd in einen Krieg ziehen. Jacques Offenbach, der Pazifist, sagt den Krieg ab und lässt Fantasio stattdessen eine flammende Antikriegsrede halten, in der er empfiehlt, dass sich doch die Staatsoberhäupter persönlich duellieren, aber nicht ihre Völker in den Krieg schicken.

Der Vaterlandsverräter

Jacques Offenbach war im Alter von 14 Jahren in Begleitung seines Vaters und seines vier Jahre älteren Bruders 1833 nach Paris gekommen, um am Konservatorium eine Ausbildung zu erhalten. 1855 eröffnete der von ihm komponierte Einakter »Die beiden Blinden« den Reigen seiner Bühnenwerke, die ihn in ganz Europa berühmt machten. 1860 nahm er die französische Staatsbürgerschaft an, ein Jahr später wurde er mit dem Band der Ehrenlegion dekoriert. Im Dezember 1869 hatte er als inzwischen hoch angesehener Komponist mit der Weltpremiere von »Die Banditen« wieder einmal einen durchschlagenden Erfolg erzielt, doch die Vorkommnisse rund um »Fantasio« stürzten ihn in tiefe persönliche Krise.
Im Juli 1870, er war mitten in den musikalischen und szenischen Proben zur Uraufführung von »Fantasio« an der Pariser Opéra-Comique, brach der Deutsch-Französische Krieg aus. Offenbach, obwohl er sich beiden Völkern verbunden fühlte, sah sich als französischer Staatsbürger mit deutscher Herkunft zunehmend Feindseligkeiten ausgesetzt. Die Deutschen betrachteten den Kölner, der seit 37 Jahren in Paris sein Zuhause hatte, als Vaterlandsverräter. Die Franzosen wiederum unterstellten dem nunmehr 51-Jährigen Komponisten sogar, ein preußischer Spion zu sein. Doch damit nicht genug. Einige französische Pressevertreter verstiegen sich sogar zu der Ansicht, seine Operetten hätten zur Verweichlichung des Second Empire beigetragen, dadurch die Soldaten der französischen Armee kampfuntauglich gemacht und deshalb wäre Jacques Offenbach und seine Musik für ihre Rückzuggefechte und Niederlagen im Deutsch-Französischen Krieg verantwortlich. Das hatte Folgen. Die Uraufführung von »Fantasio« fand gar nicht erst statt und wurde von der Theaterdirektion abgesagt. Offenbach zog sich eine Zeitlang in sein Privatleben zurück und stellte das Komponieren fast gänzlich ein.

Flop auch in Wien

Als die Waffen ruhten und die Schmähungen auf seine Person nachließen, setzte er die Proben zu »Fantasio« fort. Da in den Wirren des Deutsch-Französischen Kriegs der ursprünglich für die Partie des Fantasio vorgesehene Tenor und Publikumsliebling Victor Capoul verlustig gegangen war, weil er sich mittlerweile in England aufhielt und nicht mehr nach Paris zurückkehren wollte, musste Offenbach umdisponieren. Also schrieb er die Titelpartie für die aufstrebende Mezzosopranistin Célestine Galli-Marié um, die damit in der Uraufführungsserie von »Fantasio« außerordentlich gut gefiel. Drei Jahre später stand sie in der Pariser Opéra-Comique als erste Carmen in Georges Bizets gleichnamiger Oper auf der Bühne.
Die Pariser Uraufführung am 18. Januar 1872 brachte es auf nur zehn Vorstellungen. Der Kritiker Gustave Bertrand schob damals die Schuld am Misserfolg auf die pazifistische Schlussansprache des Titelhelden. So etwas wollten die auf Revanche sinnenden Franzosen nicht hören – und schon gar nicht von einem Komponisten mit deutschen Wurzeln und ausgerechnet auch noch in einem Bühnenwerk, das in Deutschland spielte. Für das, was Offenbach in seinem »Fantasio« formuliert hatte, Friedenssehnsucht und ein drängendes Aufbegehren gegen hierarchische Ordnung, war zu dieser Zeit nicht nur in Frankreich kein Platz. Auch die Inszenierung in Wien, wo Offenbach im Februar 1872 eine deutschsprachige Fassung herausbrachte, erwies sich mit nur 27 Vorstellungen als Flop. Im Herbst 1872 folgten noch drei Inszenierungen in Graz, Prag und Berlin – dann war Schluss. Kein weiteres Theater setzte »Fantasio« auf den Spielplan.

Züngelnde Flammen

Das Werk geriet in Vergessenheit und galt schließlich als verschollen, denn 1887 wurde das komplette Orchestermaterial beim Brand der Opéra-Comique vernichtet. Auch vom Theaterbau bleiben nur verkohlte Mauern übrig. Offenbachs handschriftliche Partitur, die bis 1937 von seiner Tochter Jacqueline aufbewahrt wurde, ging nach ihrem Tod an die Erben. Sie rissen die Seiten auseinander und versilberten sie blattweise auf dem Autografenmarkt. Glücklicherweise entdeckte der Musikwissenschaftler Jean-Christophe Keck, der 2010 mit der Rekonstruktion von Offenbachs verschollenem Bühnenwerk beauftragt wurde, etliche Notenfragmente sowohl in Archiven in London und an der Yale University als auch im Privatbesitz einer weiteren Nachfahrin Offenbachs. Hilfreich war auch der Klavierauszug der Uraufführungsfassung, der 1872 beim Verlag Choudens gedruckt worden war, und schließlich förderte Keck auch die Wiener Version mit einem kompletten Orchestersatz im Archiv von Oenbachs Berliner Verlag Bote & Bock zutage. Die Sprechszenen der rekonstruierten Fassung stellte er nach dem damaligen Zensur-Libretto und den Dialogen der Komödie von Musset zusammen.

Wie neu geboren

Keck gelang es, die Partitur zu neuem Leben zu erwecken. Seine auf einem ausführlichen Quellenstudium basierende rekonstruierte Fassung erklang erstmals im Dezember 2013 in einer konzertanten Aufführung mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment unter dem Dirigat von Sir Mark Elder in London. Das Ergebnis verblüffte: Die Musik zu »Fantasio« hat nur wenig mit dem zu tun, was Offenbach zuvor geschrieben hatte. Für seine Instrumentierung griff der Komponist auf eine große romantische Orchesterbesetzung mit vier Hörnern, doppelter Holzbläserbesetzung und drei Posaunen zurück, was sich sehr von dem unterschied, was er für die meisten seiner übrigen Werke verwendet hat, die eine eher reduzierte Orchesterbegleitung boten. Es gibt in den einzelnen Akten von »Fantasio« zwar blechlastige Zwischenmusiken, Offenbach lässt die bayerische Hofgesellschaft sogar Boléro tanzen und zitiert auch den Bayerischen Defiliermarsch. Aber »Fantasio« ist keine parodistische Offenbachiade. Die vornehmlich lyrisch-romantische Partitur gehört zu seinen Opernversuchen, so wie bereits die 1864 erstmals gespielten »Rheinnixen«.

Tiefe Gefühle

Schon zu Lebzeiten des Komponisten war sensiblen Kritikern und Zuhörern seine verletzliche und melancholische Seite aufgefallen. Sie findet sich beim Tod der Eurydike in »Orpheus in der Unterwelt« oder beim Couplet der Gräfin in »Pariser Leben« in nahezu allen seinen Werken, selbst den überdrehtesten. Dass Offenbach und seine Librettisten den sarkastischen Witz diesmal weniger bedienten, hatte auch mit dem Ort der Uraufführung zu tun. »Fantasio« war ein Auftragswerk für die Pariser Opéra-Comique. Deshalb musste der Komponist sein neues Werk an die Konventionen dieses Theaters, das heißt an die Erwartungen des Publikums anpassen, da das wohlhabende Bürgertum dieses Pariser Theater als Höhere-Töchter-Bühne benutzte. Hier wurden die heiratsfähigen Damen zwecks Anbahnung guter Partien zur diskreten Begutachtung präsentiert. Somit verboten sich schlüpfrige Witze auf der Bühne und brüllendes Gelächter im Publikum von vornherein, um die zukünftigen Bräute nicht zu verschrecken. Es durfte bei den Aufführungen nicht zu tragisch, aber auch nicht zu komisch zugehen, sondern eher empfindsam und berührend. Diese Vorgaben erfüllte »Fantasio« mit einem Liebespaar, das im Mondlicht die Liebe besingt.

Lyrische Klänge
  
Das Rückgrat der Partitur zu »Fantasio« bilden drei Liebesduette zwischen dem Titelhelden und Prinzessin Elsbeth, je eines in jedem Akt. Das erste Duett enthält eines der wichtigsten Leitmotive des Werks, den Liebesliedwalzer „Quel murmure charmant“. Er zieht sich von der Ouvertüre bis zum Finale durch das ganze Stück und erscheint immer dort, wo die Liebe bewusst oder unbewusst zur bestimmenden Macht wird. Das zweite strukturbestimmende Thema ist ein vom Chor im ersten Akt angestimmtes marschähnliches Narrenmotiv, mit dem im dritten Finale schließlich die Narrenrepublik ausgerufen wird. Der melodischen Motivstruktur entspricht eine klare Klangfarbensymbolik. Den Liebenden ist neben dem Streicher-Tutti die Flöte in warmen Farbbereichen zugeordnet. Bestimmend für die Buo-Figuren ist die näselnde Oboe. Auch plustern sich die Herrschenden gerne unter orchestraler Begleitung von Klarinette und Fagott auf. Dennoch überwiegen in der Musik zu »Fantasio« die leisen und behutsamen Töne. Ein Beispiel hierfür ist Fantasios Lied an den Mond im ersten Akt. Nicht nur dort ist die Musik auf einen lyrischen Grundton abgestimmt. Dennoch war der Komponist derselbe wie beispielsweise in »Die schöne Helena«. Auf musikalisch zündende Aktschlüsse wollte Offenbach keinesfalls verzichten. Alle drei Finali münden in Ensembleszenen, die mit großen musikalischen Bögen versehen sind.
Mit der 1873 erstmals gespielten Operette »Pomme d’Api«, die auf das Fantasio-Debakel folgte, versöhnte sich das französische Publikum wieder mit ihm – und der Komponist mit seinen Zuhörern. Viel Zeit blieb ihm danach nicht mehr. 1880 verstarb er. Seine Operette »Belle Lurette« konnte er nicht mehr vollenden. Das blieb Léo Delibes vorbehalten. Ernest Guiraud widmete sich hingegen der Fertigstellung einer aufführungsfähigen Partitur von Offenbachs Oper »Hoffmanns Erzählungen«, in der sich Spuren von »Fantasio« wiederfinden. Nicht nur der Studentenchor aus dem ersten Akt wurde vom Offenbach hierfür vollständig übernommen. Auch das musikalische Motiv von Antonias Mutterstimme „Leise tönt meiner Stimme Klang“ im dritten Akt von »Hoffmanns Erzählungen« stammt aus der Ouvertüre zu »Fantasio«.