Sonntag, 27. Dezember 2009


Engelbert Humperdinck GAUDEAMUS


Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Drachenfels zum viel besuchten Ausflugsziel. Heute verbindet die Straßenbahnlinie 66 die Stadt Siegburg mit dem bekannten Berg bei Königswinter, somit den Geburtsort des Hänsel und Gretel-Komponisten Engelbert Humperdinck mit dem Schauplatz von Gaudeamus, sein letztes Bühnenwerks.

Auf dem Drachenfels

Nach der Kölner Uraufführung seiner Oper Die Marketenderin hatte Engelbert Humperdinck mit seinem Textdichter Robert Misch 1914 einen Ausflug auf den Drachenfels unternommen. Das inspirierte ihn, seine nächste Oper nicht wie geplant in Thüringen, sondern am Rhein spielen zu lassen. Das Libretto gibt die Spielorte an: „1. Akt - Auf dem Drachenfels, 2. Akt - Mädchenpensionat in Boppard, 3. Akt - Vor dem Wirtshaus Zur Krone in Aßmannshausen“.

Der Jugend gewidmet

1917 verkündete Humperdinck in der Nationalzeitung: „Augenblicklich ist es die Partitur einer dreiaktigen heiteren Oper aus der Biedermeierzeit, die in meiner rheinischen Heimat spielt und lustige Vorgänge aus dem Studentenleben zum Gegenstand hat.“ In die Partitur seiner Studentenoper Gaudeamus schrieb Humperdinck „Hoch die Jugend! Tod den Philistern“ und widmete seine letzte Oper der jungen Generation.

Stramme Burschenschafter

Auf dem Drachenfels bei Königswinter veranstaltet 1820 die studentische Verbindung Teutonia einen Kommers mit anschließender Fuchstaufe. Der Teutonia-Marsch wird angestimmt: „Alt-Heidelberg, die Feine, / die hat die besten Weine, / jedoch im schönen Bonne / schwebst du in höchster Wonne.“ Der Burschenschaftler Rolf ist für Fanny entflammt, die Tochter des Bonner Bürgermeisters. Sie ist gegen ihren Willen vom Vater dem ältlichen Stadtrat Zuckschwert versprochen. Heimlich verloben sich Fanny und Rolf im Mondschein auf dem Drachenfels; die Studenten schmettern dazu ein „Gaudeamus igitur“. Der zweite Akt spielt in einem Mädchenpensionat in Boppard, in das Fanny verbannt wurde. Als „Tante“ verkleidet verschafft Rolf sich Zutritt und entführt seine Braut nach Aßmannshausen. Dort amtiert Fannys Onkel als Pfarrer. Im dritten Akt halten die Studenten den Bonner Bürgermeister davon ab, die Kirche zu betreten, in der Rolf und Fanny getraut werden. Die Hochzeit wird vor dem alteingesessenen Gasthaus „Zur Krone“ gefeiert.

Proteste linker Studenten

Die Uraufführung von Gaudeamus fand 1919 im Rahmen einer Humperdinck-Festwoche am Theater in Darmstadt unter der musikalischen Leitung von Erich Kleiber statt. Sie wurde von Flugblattaktionen linker Studenten gegen eine „Burschenschaftsoper“ begleitet. In den Presseberichten wurde die „melodiöse und leichtflüssige“ Musik gelobt, jedoch der „stellenweise allerdings gar zu naiv geschriebenen Text“ ungünstig besprochen. Weitere Aufführungen von Gaudeamus gab es noch an den Theatern der Universitätsstädte Rostock und Kiel, dann verschwanden die Noten im Verlagsarchiv.

Harmlose Heiterkeit

Unter dem Eindruck einer Aufführung von Pfitzners Palestrina in Berlin, wo sich Humperdinck eine Inszenierung von Gaudeamus erhoffte, schrieb der Komponist seinem Sohn Wolfram: „Es ist mir nun wieder klar geworden: in einem Theater, wo das Publikum an einem so ernsten, sinnlich fast reizlosen Werk Geschmack findet, ist für die harmlose Heiterkeit des Gaudeamus kein Platz.“


Franz Lehár CLOCLO



„Lieber Meister, bitte schreiben Sie eine Operette nur für mich“, bat zu Beginn des Jahres 1923 die Soubrette Luise Kartousch den Komponisten Franz Lehár. Luise Kartousch war zu dieser Zeit ein Star der Wiener Operette. Sie kannte Lehár seit 1908, da sie in der Uraufführung seines heute vergessenen Einakters Der Mann mit den drei Frauen mitwirkte.

Star der Wiener Operette

1909 gehörte Luise Kartousch auch zum Ensemble der Weltpremiere der Lehár-Operette Der Graf von Luxemburg. Als lebenslustige Juliette sang sie mit ihrem Partner Bernhard Bötel als Armand erstmals das Duett „Wir bummeln durchs Leben“. Diese Uraufführung war einer der Karrierehöhepunkte der 1886 in Linz geborenen Sängerin. Luise Kartousch debütierte im Grazer Theater 1902 als Mercedes in der Oper Carmen von Georges Bizet und verabschiedete sich erst 1963 im Alter von 76 Jahren in der von Ludwig Schmidseder komponierten Operette Abschiedswalzer von ihrem Publikum.

Erfolge und Niederlagen

Der in Ungarn geborene Franz Lehár gehörte seit der Uraufführung seiner Operette Die Lustige Witwe im Jahr 1905 zu den führenden Komponisten seiner Zeit. Dennoch waren nicht alle seine Bühnenwerke so erfolgreich wie Die lustige Witwe und Der Graf von Luxemburg. Keine der darauf folgenden Operetten, darunter Eva (1909) und Endlich allein (1914), erreichten die immensen Aufführungszahlen dieser beiden Welterfolge. Große Hoffnungen setze Franz Lehár daher 1923 auf seine Operette Die gelbe Jacke. Die Handlung erzählte von einer Wienerin, die sich in einen chinesischen Prinzen verliebt hat, und ihm nach Peking folgt. Doch auch Die gelbe Jacke konnte sich nach der Uraufführung im Theater an der Wien nicht durchsetzen. Sie wurde nur drei Monate lang gespielt, trotz einer prominenten Besetzung mit den damaligen Wiener Operettenstars Hubert Marischka als chinesischer Prinz und Luise Kartousch als seine Schwester Mi. Jetzt sollte die von Luise Kartousch gewünschte Operette das ersehnte, dauerhafte Erfolgsstück werden.

Der Schrei nach dem Kinde

Als Autor wurde der erfahrene Librettist Béla Jenbach verpflichtet, der sich in Zusammenarbeit mit dem Textdichter Leo Stein durch die Gesangsverse zu der Kálmán-Operette Die Csárdásfürstin (1915) einen Namen gemacht hatte. Franz Lehár kannte den Librettisten seit 1920, als Jenbach für ihn den Text zu Die blaue Mazur schrieb. Auf der Suche nach einem Stoff, der die sängerischen und darstellerischen Vorzüge von Luise Kartousch zur Geltung bringen sollte, erinnerte sich Jenbach an einen Schwank, der 1914 erstmals im Wiener Theater in der Josefstadt gespielt worden war. In einer Besprechung der Uraufführung skizzierte die Wiener Zeitung am 8. Mai 1914 den Inhalt der Verwechslungskomödie Der Schrei nach dem Kinde von Alexander Engel und Julius Horst, die Jenbach nun in ein Operettenbuch umarbeiten wollte: „Der Bürgermeister einer französischen Provinzstadt nimmt seine kleine Freundin Cloclo in sein moralisches Haus mit. Aus den mütterlichen Bedürfnissen seiner legitimen Gattin, die in der hübschen jungen Dame eine Jugendsünde ihres Gemahls vermutet und das verlorene Kind wie eine Mutter annimmt, ergeben sich eine Fülle von drolligen und lustigen Situationen.“ In der Operette von Lehár und Jenbach ist Cloclo von der „kleinen Freundin“ in der Schwankvorlage zum umjubelten Star des Pariser Revuetheaters Folies Bergère aufgestiegen.

Eine Ohrfeige mit Folgen

Im ersten Akt befindet sie sich auf der Flucht vor der Justiz. Cloclo hat nach einer wilden Fahrt mit ihrer Kutsche durch Paris einen einschreitenden Polizisten geohrfeigt und soll als Strafe für einige Tage ins Gefängnis. Als ihr Gönner Severin sie besucht und später auch seine Frau Melousine ihr die Aufwartung macht, weil sie Cloclo als vermeintliche Tochter bei sich aufnehmen möchte, sieht die Titelheldin eine Chance, sich der Gefängnisstrafe zu entziehen. Cloclo flieht am Ende des ersten Akts nach Perpignan in das Haus des Bürgermeisters. Stattdessen wird Angèle, die Verlobte von Cloclos Verehrer Maxime de la Vallé, ins Gefängnis gesteckt. Im zweiten Akt mischt Cloclo die provinzielle Gesellschaft in Perpignan durch frivolen Gesang und freche Tanzeinlagen tüchtig auf. Als die Titelheldin nach einigen Wochen nach Paris zurückkehrt, wird sie festgenommen und verbringt den dritten Akt in einer Gefängniszelle. Dort wird ihr das karge Leben durch den Besuch zahlreicher Verehrer versüßt, darunter Maxime, der ihr schließlich einen Heiratsantrag macht.

Übersprudelndes Temperament

Die Uraufführung von Cloclo fand am 8. März 1924 in der Regie von Gustav Charlé am Wiener Bürgertheater statt. Franz Lehár übernahm die musikalische Leitung. Luise Kartousch als Cloclo wirbelte im Boston- und Shimmytakt über die Bühne, und Die Wiener Zeitung schrieb: „Man ist ja an das übersprudelnde Temperament dieser zierlichen, gelenkigen Dame gewöhnt. Als Cloclo zeigte Luise Kartousch wieder ihre erstaunliche Vielseitigkeit. Wie sie zuerst die mit Beinen und Armen durch die Luft fliegende Exzentriktänzerin mimt, im zweiten Akt sich dann in den unschuldsvollen Backfisch mit dem Strickstrumpf verwandelt, ist – in der Cloclo-Sprache ausgedrückt – einfach ‚zum Schießen’.“ Der Tenor Robert Nästlberger übernahm die Rolle des Maxime und „fesselte durch die Eleganz seiner Erscheinung und seines Gesangs“. Den Bürgermeister Severin gab der Wiener Charakterkomiker Ernst Tautenhayn mit „schelmisch unter der Nase hervorguckenden Komik“. Als seine Frau Melousine betrat Gisela Wehrbezirk die Bühne. Sie spielte die Mutter bereits 1914 in der Uraufführung der Schwank-Vorlage, und erweiterte die ihr bereits vertraute Rolle in der Operettenfassung durch Gesangseinlagen. Sie war „eine fast rührend anmutende komische Provinzmutter, die mit trockenen Tönen und drastischen Gebärden durch ihren Coupletvortrag verblüfft“.

Tanzmelodien

Wie die Darsteller fand auch die Musik von Lehár in der Wiener Zeitung viel Lob. „Sein einschmeichelnder Walzer geht in die Beine, sein Marschlied sagt auch dem, der es nicht wüsste, dass Lehár Militärkapellmeister gewesen ist; die Tanzmelodien haben wirklichen Musikgehalt. Dagegen wartet man vergeblich auf so genannte Schlager.“ Diese Schlager mit Ohrwurmcharakter besaß hingegen eine Operette von Emmerich Kálmán, die zwei Wochen zuvor im Theater an der Wien uraufgeführt worden war. Der Dreiakter Gräfin Mariza begeisterte die Theaterbesucher durch temperamentvolle ungarische Weisen und einschmeichelnde Walzerklänge. Gräfin Mariza wurde ein Jahr vor stets ausverkauftem Haus gespielt, während Cloclo nach nur fünf Monaten wieder abgesetzt wurde und damit weit hinter den Erwartungen zurück blieb, die Lehár in sein Werk gesetzt hatte.

Die Nacht gehört der Sünde

Schon im darauf folgenden Jahr nahm der Komponist eine Neufassung von Cloclo vor. Das betraf Umstellungen von musikalischen Nummern und Strichen in den Dialogen. In der Hauptrolle betrat bei der Premiere am 5. September 1925 nicht mehr Luise Kartousch, sondern Gisela Kolbe die Bühne des Johann-Strauß-Theaters. Für seine überarbeitete Fassung komponierte Franz Lehár ein neues Lied auf einen Text von Peter Herz. Dieser Foxtrott gipfelte in der Aufforderung: „Komm, die Nacht gehört der Sünde und lädt dich ein: Komm sei mein!“. Da war er – der von der Presse in der Erstfassung vermisste Schlager! Doch auch das nützte nichts mehr. Die Operette Cloclo war auch bei Aufführungen an anderen Theatern kein Erfolg.

Tränenreicher Abschied

Dazu trug auch die hauseigene Konkurrenz durch neue Lehár-Operetten bei. Der Komponist hatte inzwischen in dem Tenor Richard Tauber einen kongenialen Partner gefunden, für den er seine neuen Operetten komponierte. 1925 entstand für Tauber die bitter-süße Romanze Paganini, 1927 folgte Der Zarewitsch. Im Jahr 1929 unterzog Franz Lehár seine Operette Die gelbe Jacke einer Bearbeitung unter dem neuen Titel Das Land des Lächelns. Die Berliner Uraufführung war ein Triumph – und das von Richard Tauber gesungene Lied „Dein ist mein ganzes Herz“ wurde zum Evergreen der Operette. Ein wenig an diesem Erfolg teilhaben konnte auch Luise Kartousch. Bei den Aufführungen von Das Land des Lächelns in Wien sang sie an der Seite von Tauber die chinesische Prinzessin Mi. Nur von der Operette Cloclo wollte zu ihrem Kummer niemand mehr etwas wissen. Doch während das Liebespaar in Das Land des Lächelns tränenreich voneinander Abschied nimmt, wird im Finale von Cloclo geheiratet. Cloclo wirft sich ihrem zukünftigen Mann in die Arme und erfüllt damit den von Maxime bereits im ersten Akt geäußerten Wunsch: „Lass mich zu dir, in dein loderndes Liebesrevier!“


Karl Millöcker • Theo Mackeben DIE DUBARRY


In vielen Operetten stehen historisch verbürgte Personen auf der Bühne. Dazu gehören der Komponist Franz Schubert in Das Dreimäderlhaus von Heinrich Berté, der Teufelsgeiger Niccolo Paganini in Franz Lehárs Operette Paganini und Lieselotte von der Pfalz in dem musikalischen Lustspiel Liselott von Eduard Künneke.

Die Geliebte des Königs

Erfolgreich war auch die 1923 uraufgeführte Operette Madame Pompadour mit der Musik von Leo Fall über das Liebesleben der berühmten Mätresse von Ludwig XV. Nach dem Tod der Pompadour nahm am französischen Königshof Marie Jeanne Béçu ihren Platz ein. Bekannt wurde sie als Madame Dubarry. Ihren Aufstieg zur Geliebten des französischen Herrschers in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schilderte Karl Millöcker 1879 in seiner Operette Madame Dubarry, die Theo Mackeben in einer Bearbeitung als Die Dubarry 1931 erneut auf die Bühne brachte.

Ein Mädchen vom Lande

Geboren wurde die spätere Gräfin Dubarry am 19. August 1743 in Lothringen als uneheliche Tochter der Näherin Anne Béçu. Die kleine Marie Jeanne wuchs in einer Klosterschule auf. Dann verschaffte ihre Mutter der 15-jährigen eine Stelle als Gesellschafterin bei einer vornehmen Witwe. Deren Haus musste sie aber verlassen, da sie eine zu intensive Beziehung mit deren verheirateten Söhnen eingegangen war. So arbeitete Marie Jeanne als Ladenmädchen in einem Modegeschäft in Paris. Um mehr Geld zu verdienen, hielt sie sich regelmäßig in einem von Madame Gordon geführten, zwielichtigen Etablissement auf. Dort begegnete die attraktive Marie Jeanne zum ersten Mal Jean Graf Dubarry und wurde seine Geliebte. Nachdem sein Vermögen dahin geschmolzen war und ihn seine Gattin verlassen hatte, ohne jedoch die Scheidung einzureichen, legte sich der vom Bankrott bedrohte Graf Dubarry einen Plan zurecht. Er wollte König Ludwig XV. die bildhübsche Marie Jeanne als neue Geliebte zuführen, nachdem nicht nur die Marquise de Pompadour 1764 verstorben war, sondern auch die offizielle Frau des Königs, die polnische Prinzessin Maria Leszczynska.

Die Scheinehe

Von der ersten Begegnung in einem verschwiegenen Kabinett mit der 25-jährigen Marie Jeanne war der König mehr als nur beeindruckt. Da es sich bei ihr aber um keine Dame von Adel handelte, sondern im Grunde genommen um ein Straßenmädchen, musste sie zunächst standesgemäß verheiratet werden. Graf Dubarry kam nicht infrage, da er von seiner Frau nicht geschieden war. Somit ging Marie Jeanne 1768 in der Pariser Kirche Saint-Laurent mit seinem unverheirateten Bruder Guillaume Graf Dubarry eine Scheinehe ein, um als Adlige bei Hofe Zutritt zu erhalten. Nachdem der König die Brüder Dubarry für den Trick mit der Trauung reich entlohnt hatte, verließen sie Paris. Die Dubarry – wie sie fortan genannt wurde – konnte jetzt an allen Hoffesten teilnehmen und sich ständig in der Umgebung des Königs aufhalten. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin, die Marquise de Pompadour, interessierte sich Gräfin Dubarry nur wenig für Politik. Ihre Zeit widmete sie der neusten Mode und vom König ließ sie sich für ihre Dienste mit Schmuck beschenken. Die geduldete Liaison zwischen dem Herrscher von Frankreich und der hübschen Marie Jeanne dauerte nur wenige Jahre. Nachdem Ludwig XV. 1774 gestorben war, wurde die inzwischen 31-jährige Dubarry vom Hof entfernt und in ein Kloster verbannt. Erst zwei Jahre später durfte sie nach einem Gnadenerlass von König Ludwig XVI. auf ihr Schloss Louveciennes zurückkehren, das ihr einst der für ihre Liebesdienste dankbare Ludwig XV. schenkte. Dort war Jean Paul Timoléon de Cossé, Marschall von Frankreich und Gouverneur von Paris, der später in den Wirren der Französischen Revolution umkam, zehn Jahre lang ihr Geliebter.

Auf der Guillotine

Auch die Dubarry beobachtete den Ausbruch der französischen Revolution mit großer Sorge. Sie vergrub ihre wertvollen Juwelen im Schlosspark und floh 1790 nach London. Zwei Jahre später kehrte sie nach Frankreich zurück. Nachdem sich die ersten Wogen der Revolution glätteten, glaubte sie sich dort wieder sicher. Im September 1793 wurde Gräfin Dubarry verhaftet. Angeklagt wurde sie in ihrer Funktion als königliche Mätresse wegen Verschwendungssucht auf Kosten des Volkes. Zudem wurde sie beschuldigt, von London aus eine Verschwörung gegen die Revolutionäre angezettelt zu haben. Das Tribunal verurteilte Madame Dubarry zum Tod. Sie versuchte vergeblich ihr Leben zu retten, indem sie das Versteck ihrer vergrabenen Juwelen verriet. Es half alles nichts: Marie Jeanne Béçu alias Gräfin Dubarry wurde am 8. Dezember 1793 in Paris im Alter von fünfzig Jahren geköpft. Von diesen schauerlichen Vorgängen – Zeitzeugen berichteten, dass die Dubarry ohnmächtig vor Angst von den Henkersknechten auf die Guillotine geschleift werden musste – wird dem heiteren Genre gemäß sowohl in der Operette Madame Dubarry von Karl Millöcker als auch in der Umarbeitung durch Theo Mackeben nichts erzählt. Geschildert wird in beiden Bühnenwerken in anmutigen Bildern der Aufstieg des einfachen Mädchens zur Geliebten des französischen Königs in den Jahren vor der Revolution.

Millöckers Melodien

Der Komponist Karl Millöcker wurde 1842 als Sohn eines Goldschmieds geboren. Da ihm die Eignung zu diesem Beruf fehlte, ließ ihn der Vater am Wiener Konservatorium studieren. 1864 wurde Millöcker als Kapellmeister in Graz angestellt und komponierte erste Operetteneinakter. Nach weiteren Engagements am Wiener Harmonie-Theater und am Deutschen Theater in Budapest wurde Millöcker 1869 als Kapellmeister an das bekannte Theater an der Wien verpflichtet. Dort wurde 1878 seine erste abendfüllende Operette Das verwunschene Schloß begeistert aufgenommen. Die erfolgreiche Uraufführung seines Meisterwerks Der Bettelstudent versetzte Millöcker 1882 in den Stand, sich ausschließlich dem Komponieren zu widmen und seinem Steckenpferd nachzugehen. Leidenschaftlich sammelte Karl Millöcker, der am Silvesterabend 1899 starb, Ansichtskarten aus aller Welt, die er zusammen mit seinen Partituren der Stadt Wien vermachte.

Dichtung und Wahrheit

Die Uraufführung seiner Operette Madame Dubarry fand am 31. Oktober 1879 im Theater an der Wien statt. Zum Ensemble gehörte mit Alexander Girardi als Friseur Leonard einer der großen Stars der klassischen Wiener Operette. Als erste Dubarry betrat die Sopranistin Hermine Meyerhoff die Bühne, die ihre Karriere nur wenige Jahre später in Riga 1886 als Saffi in Der Zigeunerbaron Johann Strauß beendete, um einen russischen Diplomaten zu heiraten. Als Vorlage zur Operette Madame Dubarry wählten die Librettisten von Karl Millöcker ein französisches Lustspiel über die Dubarry, in der von ihren wahren und angedichteten amourösen Abenteuern erzählt wurde. Die Geschichte wurde von den Textdichtern Friedrich Zell und Richard Genée somit nicht ganz wahrheitsgemäß erzählt, und manche Handlungsstränge wie die Beziehung von Marie Jeanne zu ihrem Friseur wurden hinzugedichtet. Die zeitgenössische Wiener Kritik bezeichnete Millöckers Bühnenwerk als »tüchtige Capellmeister-Operette«, sprach ihr eingängige Melodien ab und lobte die Darsteller. Madame Dubarry wurde 1879 noch in Berlin und Brünn sowie an einigen Provinzbühnen nachgespielt, dann geriet das Werk in Vergessenheit.

Die Bearbeitung von Mackeben

Nachdem das Leben der Dubarry 1919 von Ernst Lubitsch mit Pola Negri in der Hauptrolle verfilmt wurde, geriet das Schicksal der berühmten Mätresse wieder in Erinnerung. Und als Fritzi Massary 1923 als Madame Pompadour in der Operette von Leo Fall große Erfolge feierte, wurde die längst vergessene Operette von Millöcker über die Nachfolgerin der Pompadour aus der Versenkung geholt und 1931 in der Bearbeitung von Theo Mackeben unter dem neuen Titel Die Dubarry in Berlin erstmals gespielt. Theo Mackeben, der 1897 in Preussisch Stargard in Pommern geboren wurde, gab bereits als Dreizehnjähriger in Koblenz, wo er aufgewachsen war, sein erstes öffentliches Klavierkonzert. 1916 begann er ein Studium der Musik am Konservatorium Köln. 1925 war er als Kapellmeister an Berliner Theatern tätig und dirigierte mit Richard Tauber in der Hauptrolle Aufführungen der Operette Eine Nacht in Venedig von Johann Strauß in einer Bearbeitung von Erich Wolfgang Korngold. 1928 war Mackeben in Berlin dann der musikalische Leiter einer der wichtigsten Premieren des Musiktheaters in der Weimarer Republik. Bei der Uraufführung der Dreigroschenoper von Kurt Weill und Bertolt Brecht leitete Theo Mackeben die Lewis-Ruth-Band. Mit der Verbreitung des Tonfilms übernahm Mackeben auch Filmmusik-Aufträge und komponierte für Gustaf Gründgens den Titel »Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da« für den Spielfilm Tanz auf dem Vulkan. Nach dem Krieg konnte Theo Mackeben bis zu seinem Tod im Jahr 1953 seine Karriere fortsetzen.

Wenn Verliebte bummeln geh’n

Paul Knepler und Ignaz Michael Welleminsky, die Librettisten der Revueoperette Die Dubarry, folgten der Handlung der Operette von Millöcker nur in den historischen Grundzügen. Sie schufen neue Handlungsorte wie eine Mansarde mit Blick auf Paris, in der sich Marie Jeanne mit dem armen Schriftsteller René trifft, in den sie sich verliebt hat. Bei Mackeben wird sie dann von Graf Dubarry im Salon der Madame Sauterelle in die Halbwelt eingeführt – was bei Millöcker so nicht gezeigt wurde – und schließlich zur Favoritin des Königs erhoben, was den Verzicht auf René nach sich zog. Von Millöckers Originalpartitur blieben nur wenige Nummern übrig, wie das Rondo der Dubarry »Ob man gefällt, ob nicht«. Der ursprüngliche Chor der Wachen »Schon naht die Nacht« wurde in das Duett »Es lockt die Nacht« zwischen Jeanne und René verwandelt. Für Jeannes Freundin Margot und ihren Verehrer Brissac, die in der Version von 1931 das Buffo-Paar bildeten, komponierte Mackeben zwei Duette, darunter »Wenn Verliebte bummeln geh’n«, und er stattete auch die Partie der Dubarry mit neuen Liedern aus wie »Ich schenk’ mein Herz nur dem allein«. Die Partitur zu Die Dubarry wurde von Mackeben zudem mit Melodien aus anderen Operetten von Millöcker wie Die Jungfrau von Belleville angereichert, zu denen die Librettisten Knepler und Welleminsky neue Verse erfanden.

Blumenkohl à la Dubarry

Die Uraufführung der Operette Die Dubarry am 14. August 1931 im Berliner Theater im Admiralspalast war ein großer Erfolg, vor allem wegen der ungarischen Sopranistin Gitta Alpár. Sie war ein beliebter Star und wirkte 1930 an der Seite von Richard Tauber in der Uraufführung der Lehár-Operette Schön ist die Welt mit. 1938 kam Die Dubarry im Admiralspalast erneut auf die Bühne, denn Mackebens Erfolgsstück durfte in Deutschland nach 1933 im Gegensatz zu vielen anderen Operetten weiter gespielt werden. Zu dieser Zeit war Gitta Alpár längst nach Großbritannien emigriert. Sie trat dort am Theater auf und drehte in England 1935 den Musikfilm I Give My Heart nach der Operette von Mackeben. Nach dem Krieg gab die Operettensängerin Sari Barabas die lebenslustige Geliebte des Königs in dem Film Die Dubarry, wieder mit der Musik von Mackeben. Die Uraufführung fand in Köln 1951 in den Hahnentor-Lichtspielen statt. Und sogar in Kochbüchern ist der Name der legendären Mätresse verzeichnet. In dem von ihr zusammengestellten Rezept Blumenkohl à la Dubarry wird Blumenkohl in einer Schinken-Käse-Soße mit einer Prise Muskat serviert. Ob die Dubarry damit auch den König von Frankreich verwöhnt hat, wurde nicht überliefert.

Samstag, 26. Dezember 2009


DIE SÄNGERIN ERNA SCHLÜTER


Der hochdramatische Wagnergesang fand im 20. Jahrhundert eine bedeutende Interpretin, die in Oldenburg geboren wurden. Erna Schlüter war zu ihrer Zeit als Isolde und Brünnhilde berühmt. Die Düsseldorfer Oper war für sie das Sprungbrett in eine internationale Karriere, die sie an die Metropolitan Opera und zu den Salzburger Festspielen führte. Die Künstlerin gestaltete mit großer Intensität die Tiefen und Untiefen ihrer Partien, ob Elektra, Kundry oder die Färberin. Die Charaktere wurden von Erna Schlüter nicht monumental, wie man das von den Heroinen früherer Jahre meist gewöhnt war, sondern leidenschaftlich gespielt.
Debüt mit 18 Jahren
Die 1870 in Oldenburg geborene Mezzosopranistin Cilla Tolli, wurde als Wagnersängerin in Hamburg, Köln, Leipzig und London gefeiert. Nach dem Ende ihrer aktiven Karriere eröffnete sie 1918 in ihrer Vaterstadt eine Gesangsschule. Ihre bedeutendste Schülerin war Erna Schlüter. Nach ihrer sängerischen Ausbildung wurde sie 1922 mit nur 18 Jahren als Elevin in das Ensemble des Oldenburger Landestheaters aufgenommen.
Mit strahlender Stimme
Der damalige Intendant Renato Mordo erkannte sofort das große Talent und die ausdrucksstarke Stimme von Erna Schlüter und gab ihr mit der Azucena in Verdis Oper „Der Troubadour“ die erste Fachpartie. Kapellmeister Rosenstein schrieb in einem Bericht an die Intendanz über ihr Debüt nur zwei Worte: „Stimmlich hervorragend“. Die Oldenburger Presse meinte über eine einige Monate später stattgefundene Aufführung: „Der Troubadour erwies am zweiten Pfingsttage noch einmal seine hier oft bewährte Zugkraft. Wenn Erna Schlüter als Azucena und Fritz Blankenhorn als Manrico ihre beneidenswert strahlenden Stimmen vereinigen, so war das ein reiner Genuss.“
Irmentraut und Pamela
Die Partien in Oldenburg wurden immer größer und deckten schließlich das gesamte Fach einer jungen Altistin ab. Erna Schlüter gab eine quicklebendige Irmentraut in „Der Waffenschmied“, übernahm die intrigante Annina im „Rosenkavalier“, und gefiel als sehr jugendliche Amme in „Eugen Onegin“. Als Dienerin Suzuki stand sie der unglücklichen Madame Butterfly zur Seite und auch als Pamela in der Spieloper „Fra Diavolo“ bekam sie viel Anerkennung, auch von der Presse, die 1924 schrieb: „Erna Schlüter als Pamela gab sich redlich Mühe, dem verliebten angelsächsischen Mädchen im Spiel möglichst gerecht zu werden. Dass sie dem gesanglichen Teil der Rolle nichts schuldig blieb, ist für uns selbstverständlich. Außerdem sah sie in den ausgewählten Kostümen bildhübsch aus.“ Ihre Erfolge veranlassten die Intendanz des Oldenburger Landestheaters Erna Schlüter schließlich eine der großen Fachpartien anzuvertrauen. In der Spielzeit 1924/25 gestaltete sie auf dieser Bühne bewegend den Orpheus in Glucks Barockoper „Orpheus und Eurydike“. Mit der Floßhilde sang Erna Schlüter 1924 im „Rheingold“ in Oldenburg ihre erste Wagnerpartie, ohne damals zu ahnen, dass sie nur wenige Jahre später zu den zentralen Wagnersängerinnen des gesamten 20. Jahrhunderts gehören sollte.
Abschied von Oldenburg
In der deutschen Theaterlandschaft sprach es sich herum, dass am Oldenburger Theater eine junge Sängerin herangewachsen war, ein vielversprechendes Talent, das jetzt für größere Aufgaben reif war. Erna Schlüter sagte ihrer Vaterstadt Ade und wechselte schweren Herzens an das Nationaltheater in Mannheim. Zum Abschied sang sie in Oldenburg im Frühjahr 1925 noch einmal den Orpheus. Die Landeszeitung schrieb über diesen denkwürdigen Abend: „Eine Bühne voll Blumen und Beifall, wie er wohl trotz allem, was wir gewöhnt sind, noch nicht das Haus durchraste. Wie oft der Vorhang sich öffnete, weiß der Kritiker nicht. Was man festhielt, war ein Bild von rührender und unvergesslicher Schönheit. Die junge Künstlerin inmitten verschwenderischer Blumenpracht und umtost vom nicht endendwollenden Beifall. Es wird Erna Schlüter immer wieder hierher zurückziehen, zu dem Ort ihres künstlerischen Aufstiegs, zu dem Haus ihrer aufopfernden Lehrerin Cilla Tolli, in deren Werkstatt die Stimme zu der vollendeten Kultur gelangte und jede Rolle Form und Leben erhielt, und vor allem – zur Oldenburger Heimat. Also – keinen langen Abschied, sondern einen Handschlag und - auf Wiedersehen!“
Wechsel nach Mannheim
Und Erna Schlüter eroberte sich zwischen 1925 und 1930 als Dalila und Santuzza auch das Mannheimer Publikum. Und schließlich wagte sie mit der Marschallin in der Oper „Der Rosenkavalier“ den Sprung ins Sopranfach, denn ihre Stimme hatte an Höhe gewonnen. In einer Mannheimer Zeitung war zu lesen: „Erna Schlüter näherte sich der Feldmarschallin, der verzeihend-gütigen Frau, von der gesanglichen, der tonlichen Seite her. Im warmen Gefühlston suchte sie ihr Heil, und ihre ausnehmend schöne, weich gebettete Sopranstimme - eine der schönsten Frauenstimmen, die an deutschen Opernhäusern wächst - badete sich ordentlich im Auf- und Abwogen dieser Strauss’schen Lyrik.“
Engagement in Düsseldorf
Von Mannheim aus führte Erna Schlüter der Weg weiter nach Düsseldorf, damals wie heute eines der führenden deutschen Opernhäuser. Den Ausschlag, vom Neckar an den Rhein zu wechseln, gab nach einem erfolgreichen Vorsingen der Vertrag, der nicht mehr wie in Mannheim nur Rollen für Mezzosopran vorsah, sondern Erna Schlüter auch Partien für jugendlich-dramatischen Sopran in Aussicht stellte. Erna Schlüter debütierte im Herbst 1930 in Düsseldorf als Senta in „Der Fliegende Holländer“. Ihre Stimme erreichte mit nunmehr 26 Jahren eine strahlende Höhe, verbunden mit einer klangvollen Mittellage, die sie befähigte, neben den Partien des jugendlich-dramatischen Fachs auch Partien zu singen, die dem dramatischen Mezzofach zugeordnet waren. Erna Schlüter übernahm in Düsseldorf aber auch eine Mozart-Partie. Es war die der Donna Anna in „Don Giovanni“ und es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Erna Schlüter, die später gefeierte hochdramatische Strauss- und Wagner-Sängerin, in Mannheim und Düsseldorf auch als Verdi-Sopranistin glänzte, so als Lady Macbeth, als Amelia in „Ein Maskenball“ und als Leonora in „Die Macht des Schicksals“.
Erfolg als Kundry
Dennoch standen in Düsseldorf Partien des Bayreuther Meisters im Mittelpunkt ihres Repertoires. 1933 wurde Erna Schlüter als Ortrud in „Lohengrin“ gefeiert, 1934 sang sie erstmals Kundry in „Parsifal“ und begeisterte 1936 auch als Venus in „Tannhäuser“ das rheinische Publikum, zu dessen erklärter Lieblingssängerin Erna Schlüter in den Düsseldorfer Jahren zwischen 1930 und 1940 wurde, vor allem, nachdem sie 1933 zum ersten Mal als Isolde aufgetreten war.
Konzert mit Wilhelm Furtwängler
1938 wurde Erna Schlüter in Düsseldorf im Alter von nur 34 Jahren zur Kammersängerin ernannt. Inzwischen hatte auch ihre überregionale Karriere begonnen. 1936 gastierte sie an der Frankfurter Oper und sang dort erstmals alle drei Brünnhilden in Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“, die sie auch an ihrem Düsseldorfer Stammhaus mit Erfolg gab. Zu den ersten internationalen Gastspielen gehörte ein Auftreten als Brünnhilde in kompletten „Ring“-Aufführungen im spanischen Barcelona. Und der große deutsche Dirigent Wilhelm Furtwängler, dessen übergroße künstlerische Bedeutung bekannt ist, lud Erna Schlüter 1936 zu einem Konzert mit dem Berliner Philharmonischen Orchester ein. In Stuttgart entstand 1938 ihre erste erhalten gebliebene Rundfunkaufnahme. Erna Schlüter sang an der Seite des berühmten Rudolf Bockelmann als Wotan die Brünnhilde in der „Walküre“. 1939 hatte sie dann ein künstlerisches Erlebnis der außergewöhnlichen Art. Unter sternenklarem Abendhimmel sang Erna Schlüter in einer Freiluftaufführung in der legendären, bei Danzig gelegenen Zoppoter Waldoper die Götterdämmerungs-Brünnhilde. Erste Liederabende fielen in jene Zeit und Erna Schlüter wurde von der Kritik bescheinigt, dass sie „wundervoll und beseelt“ Lieder von Schumann und Brahms interpretierte.
An der Hamburger Staatsoper
1940 nahm Erna Schlüter ein festes Engagement am Opernhaus in Hamburg an, wo sie als geschätztes Ensemblemitglied bis zum Ende ihrer Laufbahn 1956 blieb. Sie fügte dort zu Beginn der Vierzigerjahre ihrem Repertoire die Leonore in Beethovens „Fidelio“ hinzu und sang im gleichen Zeitraum neben der leidvoll-liebenden Isolde erstmals ihre zweite Glanzpartie: die rachsüchtige Elektra von Richard Strauss, die von anderen Sängerinnen wegen ihrer enormen darstellerischen und immensen gesanglichen Schwierigkeiten gefürchtet, von Erna Schlüter dagegen aber souverän gemeistert wurde.
Internationale Auftritte
Trotz des Kriegs, der inzwischen in Europa ausgebrochen war, setzte Erna Schlüter neben ihren Hamburger Verpflichtungen ihre internationale Karriere fort. 1942 erfolgte der Ruf an die Mailänder Scala, wo Erna Schlüter als Isolde gefeiert wurde. 1944 gastierte sie als Rosenkavalier-Marschallin in Barcelona und gab kurz bevor alle deutschen Theater geschlossen wurden endlich ihr lang ersehntes Berliner Bühnendebüt als Brünnhilde in Wagners „Götterdämmerung“, nachdem sie bereits 1940 den Schlussgesang unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler für den Rundfunk aufnahm.
Enttäuschung in New York
Mit 42 Jahren wurde Erna Schlüter 1946 an die Metropolitan Opera nach New York engagiert. Verpflichtet war sie für zwei Aufführungs-Serien als Marschallin und als Isolde. Doch die Met – für alle Sängerinnen und Sänger der Gipfel ihrer Karriere – wurde für Erna Schlüter zum Desaster. Sie hatte sich auf dem Flug mit einer Militärmaschine von Hamburg nach New York erkältet. Trotz ihrer Indisposition sang sie die Isolde, was ihr aber schlechte Kritiken einbrachte. Ihr Auftritt als Marschallin wenige Tage später wurde günstiger besprochen. Dennoch wurde der Vertrag mit Erna Schlüter nach jeweils nur einer Aufführung von „Tristan und Isolde“ und „Der Rosenkavalier“ von Seiten der Direktion der Metropolitan Opera nicht erfüllt; andere Sängerinnen nahmen ihren Platz ein. Trotzdem, so berichtete Erna Schlüter in Briefen an ihre Familie, konnte sie sich nicht dazu entschließen aus New York abzureisen. Sie wartete fünf Wochen lang in ihrem Hotelzimmer vergeblich darauf, von der Met angerufen zu werden, um ihren Vertrag zu erfüllen. Wie so oft nicht nur im Künstlerleben liegen Niederlagen und Erfolge dicht beieinander. Nach Hamburg zurückgekehrt erhielt Erna Schlüter den künstlerischen Ritterschlag und erlebte die Erfüllung ihres Sängerlebens, und zwar in dreifacher Hinsicht.
Isolde in Berlin, Elektra in London
Wilhelm Furtwängler adelte Erna Schlüter und ihre sängerische Kunst, indem er sie 1947 als Isolde an die Berliner Staatsoper verpflichtete. Die Presse schrieb über die Aufführung: „Das Wunder Schlüter“. Anschließend folgte mit Erna Schlüters Debüt in London 1947 der nächste große Meilenstein ihrer an Höhepunkten wahrlich nicht armen Karriere. Londoner Kulturschaffende hatten Geld gesammelt, um den in der Schweiz lebenden, nunmehr 84-jährigen Richard Strauss in die englische Hauptstadt einzuladen. Die BBC veranstaltete Konzertabende und initiierte auch eine Rundfunkgesamtaufnahme seiner Oper „Elektra“ – und die nur ein Jahr zuvor in New York geschmähte Erna Schlüter konnte unter der musikalischen Leitung von Sir Thomas Beecham und in Anwesenheit des greisen Richard Strauss einen ihrer allergrößten Triumphe feiern. Richard Strauss dankte ihr herzlich und sah in ihr die Erfüllung der Elektra, so wie Wilhelm Furtwängler in ihr die Erfüllung der Isolde sah. Zudem empfand Erna Schlüter es als besondere Auszeichnung, als Wilhelm Furtwängler sie bat, 1948 bei den Salzburger Festspielen als Leonore in Aufführungen von Ludwig van Beethovens Meisterwerk „Fidelio“ mitzuwirken.
Gastspiele und Rundfunkaufnahmen
In Hamburg sang Erna Schlüter 1947 die Lehrerin Ellen Orford in der Deutschen Erstaufführung der Britten-Oper „Peter Grimes“ und setzte ihre Gastspieltätigkeit fort. Ihr kräftiger, in allen Lagen gleichmäßig strömender Sopran ist in vielen Rundfunkaufnahmen dokumentiert, die in der Nachkriegszeit entstanden. Der Hessische Rundfunk nahm sie unter Vertrag und Erna Schlüter reiste nach Frankfurt, um dort an kompletten Einspielungen von „Die Walküre“ als Brünnhilde, von „Rienzi“ als Adriano und von „Die Frau ohne Schatten“ als Färberin mitzuwirken. Und Erna Schlüter gastierte erfolgreich in Stuttgart, Köln, Düsseldorf und anderen deutschen Städten. Nur an ihrem Hamburger Stammhaus vernachlässigte Günther Rennert, der damalige Intendant der Staatsoper, die Sängerin. Erna Schlüter war dort nach 1950 nur noch als Elektra und Marschallin zu hören. In der Neuinszenierung der „Walküre“ besetzte Rennert 1952 die Partie der Brünnhilde nicht mit ihr, obwohl ihre Auftritte in Hamburg immer für große Begeisterung sorgten, sondern engagierte Helena Braun aus München, die aber nicht gefiel.
Eine grandiose Elektra
Für das Oldenburger Publikum war es ein besonderes Ereignis, Kammersängerin Erna Schlüter an ihrer ehemaligen Wirkungsstätte im September 1951 in einer Serie von Elektra-Aufführungen nochmals erleben zu dürfen. Mit verzehrender Leidenschaft gab sich Erna Schlüter dem triumphierenden Schlussgesang hin, und wie Zeitzeugen berichteten, steigerte sie sich auf der Bühne dermaßen in die Rolle der rachsüchtigen Elektra, dass die Zuschauer nach dem letzten Takt nicht zu applaudieren wagten – sie hatten den Eindruck, Erna Schlüter wäre als Elektra wahrhaftig gestorben.
Als 1953 in England aus Anlass der Krönungsfeierlichkeiten von Elisabeth II. auch Opernabende veranstaltet wurden, in denen man das Beste vom besten präsentieren wollte, lud man zwei berühmte Sängerinnen ein. Die eine war Maria Callas, die andere Erna Schlüter. Sie sang erneut die Elektra, diesmal am Opernhaus Covent Garden unter Erich Kleiber; die junge Joan Sutherland sang die Partie der Aufseherin.
Abschied von der Bühne
In der Mitte der Fünfzigerjahren machten sich bei Erna Schlüter erste Anzeichen einer Erkrankung bemerkbar, und sie spürte in ihren nun 52 Jahren auch, dass es Zeit wurde, von den schweren Wagner- und Strausspartien Abschied zu nehmen, die sie seit nunmehr 25 Jahren sang. Erna Schlüter wollte sich mit der Küsterin in Janaceks mährischem Bauerndrama „Jenufa“ auf einen Fachwechsel vorbereiten. Doch die Krankheit zwang sie zum Bühnenabschied. Dennoch sagte Erna Schlüter der Gesangskunst nicht adieu, sondern verlegte sich aufs Unterrichten.
Eine legendäre Sängerin
Nachdem Erna Schlüter am 1. Dezember 1969 gestorben war, wurde sie in Oldenburg auf dem Gertrudenfriedhof zur letzten Ruhe gebettet. Ihr Grab wurde aus Anlass ihres 100. Geburtstags mit einem neu geschaffenen Stein und einer Bronzeplakette versehen, den die Bildhauerin Rita Westermann gestaltete.
Der Nachruf in der Welt vom 3. Dezember 1969 beschrieb Erna Schlüters Stimme zutreffend: „Ihr Sopran, der zwischen strahlender Kraftentfaltung und einem leuchtenden Pianissimo über reiche Differenzierungsfähigkeit verfügte, hatte eigenen Glanz, ihr Spiel war beseelt von der Kraft zu idealistischem Aufschwung, die sich mit warmer Empfindung mischte.“

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Die Idee zur Gründung einer Erna-Schlüter Gesellschaft entstand im Jahr 2004. Der Geburtstag der Oldenburger Sopranistin (1904-1969) jährte sich zum hundertsten Mal. Zu Ehren Erna Schlüters sollte eine besondere Gedenkfeier stattfinden. In Zusammenarbeit mit dem Oldenburgischen Staatstheater und mehreren Sponsoren konnten private Förderer am 16. Mai 2004 den Vorhang des Großen Hauses „in memoriam Erna Schlüter“ öffnen. Eine Matinee brachte die Sängerin näher – ihre Auftritte auf bedeutenden Opernbühnen und ihre besondere Liebe zu Oldenburg. Als Gast trat eine weitere berühmte Sopranistin aus dem Oldenburger Raum auf – Hildegard Behrens (1937-2009). Die Kammersängerin aus Varel erklärte sich bereit Ehrenpräsidentin der Erna Schlüter-Gesellschaft zu werden. Eines der Ziele der Gesellschaft ist die Vergabe eines Förderpreises an junge Sänger/innen. Der Preis wird seit 2005 regelmäßig verliehen. Neben einem jährlichen Treffen gibt es weitere Gelegenheiten zum Austausch mit den anderen Mitgliedern: im Erna-Schlüter-Foyer des Staatstheaters, bei Einladungen zu Veranstaltungen des Theaters, Konzerten, Vorträgen und Liederabenden.

Mehr dazu unter www.ernaschlueter.com