Wäre es nach dem Wunsch seines Vaters gegangen, hätte Karl Millöcker seinen Lebensunterhalt als Goldschmied bestritten. Stattdessen komponierte er für das Theater. Der Bettelstudent war Millöckers erfolgreichste Operette, aber auch seine anderen Bühnenwerke Gräfin Dubarry, Der Vizeadmiral und Gasparone überzeugten durch ihre musikalische Qualität. Gemeinsam mit Johann Strauß und Franz von Suppé bildete Karl Millöcker das Dreigestirn der klassischen Wiener Operette.
Lehrjahre als Goldschmied
Geboren wurde Millöcker 1842 in Wien und ging zunächst als Sohn eines Goldschmieds beim Vater in die Lehre. Millöcker erinnerte sich später an seine Lehrzeit: „Als Goldschmiedegeselle habe ich angefangen. Und ich könnte heute über ein wohlassortiertes Lager selbstverfertigter Eheringe und Firmungskreuze verfügen, hätte mir nicht mein Jähzorn diese schöne Karriere ein- für allemal verschlossen. Ich saß in meines Vaters Werkstatt und führte das Hämmerlein. Und wenn mir so eine güldene Kette nicht gleich parieren wollte, so machte ich kurzen Prozess und warf sie auf die Straße hinaus. Diese Methode in der Verarbeitung von Edelmetall war in der edlen Wiener Goldschmiedekunst bisher noch nirgends angewendet worden. Und mein Vater, der begründete Zweifel hatte, dass durch meine Methode sein Geschäft in Flor kommen sollte, erwies sich und der Goldschmiedekunst einen unschätzbaren Dienst und machte mich zum Musiker, was stets mein inniger Herzenswunsch gewesen war.“
Erste Erfolge
Nach der Ausbildung am Wiener Konservatorium ging Millöcker 1864 für zwei Spielzeiten als Kapellmeister nach Graz. Dort entstanden erste Operetteneinakter. Nach weiteren Engagements am Wiener Harmonie-Theater und am Deutschen Theater in Budapest wurde Millöcker 1869 als Kapellmeister an das renommierte Theater an der Wien verpflichtet. Seine abendfüllende Operette Das verwunschene Schloss wurde 1878 begeistert aufgenommen. Auch die folgenden Werke Apajune, der Wassermann und Die Jungfrau von Belleville gefielen dem Publikum.
Der historische Hintergrund
Die Handlung von Millöckers bekanntester Operette Der Bettelstudent spielt in Krakau 1704 vor dem Hintergrund der so genannten Nordischen Kriege (1700 - 1721). Kurfürst August II. von Sachsen, der auch ‚Der Starke’ genannt wurde, erreichte 1697 durch Bestechung, dass die Magnaten des Wahlkönigtums Polen ihn zum König wählten. Die Polen erwarteten von ihrem neuen Herrscher, das im Jahr 1660 von den Schweden besetzte polnische Livland zurück zu erobern. Schließlich gewann nach vielen Kämpfen die schwedische Armee die Oberhand. Nach der Niederlage des sächsisch-polnischen Heeres im Jahr 1704 bei Pultusk wurde König August II. entthront. König Karl XII. von Schweden ließ in Warschau den polnischen Adligen Stanislaus Leszczynski zum König ausrufen. Doch nachdem die Schweden im Jahr 1709 von den Russen bei Poltawa geschlagen wurden, erneuerte August II. seine königlichen Ansprüche und kehrte auf den polnischen Thron zurück. Stanislaus Leszczynski ging nach Zweibrücken ins saarländische Exil. Nach dem Tod von August II. kehrte Stanislaus nach Polen zurück und wurde 1733 ein zweites Mal zum König ernannt.
Ein Kuss mit Folgen
In der Operette Der Bettelstudent umrahmen diese politischen Entwicklungen die Intrige des historisch nicht belegbaren sächsische Oberst Ollendorf, seines Zeichens Gouverneur von Krakau. „Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküsst… / …Hier hab’ ich den Schlag gespürt, mit dem Fächer ins Gesicht“ empört sich der Oberst, nachdem er auf einem Fest bei der polnischen Grafentochter Laura abgeblitzt ist. Um sich für die erlittene Schmach zu rächen, präsentiert Ollendorf der spröden Laura einen Bräutigam nach Maß. Es ist der reiche Fürst Wybicki. In Wahrheit steckt der polnische Bettelstudent Symon hinter der Maskerade. Für die Intrige wurde Symon als politischer Gefangener der Sachsen aus der Haft entlassen und macht als Fürst Wybicki Laura den Hof. Auf dem Hochzeitsfest wird seine wahre Identität enthüllt: Laura hat einen armen polnischen Studenten geheiratet.
Ein falscher Fürst
Das Motiv des Identitätswechsels, um eine andere Person zu täuschen und zu blamieren, entnahmen die Librettisten Friedrich Zell und Richard Genée zwei älteren Schauspielen. Der englische Dichter Edward George Bulwer-Lytton, dessen Roman Rienzi, or The Last of the Tribunes den Komponisten Richard Wagner zu seiner 1842 uraufgeführten Oper Rienzi anregte, veröffentlichte 1838 die Komödie The Lady of Lyons. Zwei ältliche Bürger aus Lyon erhalten von der schönen Pauline einen Korb. Um sich zu rächen, statten sie einen armen Müllerburschen mit Geld aus und stellen ihn Pauline als italienischen Prinz vor. Als nach der Trauung die Wahrheit ans Licht kommt, bleibt Pauline ihrem Gatten treu.
Ein Mädchen mit Vergangenheit
Die zweite Quelle war das vom französischen Bühnenautor Victorien Sardou 1870 geschriebene Lustspiel Fernande. Gräfin Clotilde will sich an einem ungetreuen Liebhaber rächen. Sie stellt dem Marquis André die angebliche Baronesse Fernande vor, die in Wahrheit ein Mädchen mit pikanter Vergangenheit ist. Im der Operette Der Bettelstudent fällt Gräfin Laura auf einen falschen Fürsten herein. Ollendorfs Strategie geht auf: Laura wird durch die Eheschließung mit einem armen Studenten bloßgestellt. Weil das damalige Theaterpublikum jedoch erwartete, dass Laura und Symon miteinander verheiratet blieben, in der damaligen K. u. K. Monarchie aber die Ehe zwischen einer Adligen und einem bürgerlichen Studenten selbst auf der Operettenbühne nicht möglich war, veränderten die Librettisten kurzerhand die historischen Abläufe, um die Ehe aufrecht zu erhalten. Friedrich Zell und Richard Genée nahmen die Einsetzung von Stanislaus Leszczynski als polnischen König durch die Schweden zum Anlass, einen Aufstand der Krakauer gegen die Sachsen zu erfinden, der historisch so nicht stattgefunden hat. Im Finale von Millöckers Operette wird Ollendorf von den Truppen des Graf Opalinski gefangen genommen und Krakau dadurch von sächsischer Herrschaft befreit. Der Bettelstudent Symon beteiligt sich am Aufstand und wird von Opalinski als Anerkennung seiner patriotischen Verdienste in den gräflichen Adelsstand erhoben. Gräfin Laura kann Symons Frau bleiben.
Weltpremiere mit Stars
Der Triumphzug des Bettelstudent über die Bühnen der Welt begann mit der Uraufführung am 6. Dezember 1882 im Theater an der Wien. Der vierzigjährige Komponist übernahm persönlich die musikalische Leitung. Als musikalische Referenz an den Handlungsort Krakau durchzieht der polnische Nationaltanz Mazurka die farbenreiche Partitur. Der markante Rhythmus der Mazurka prägt in vielerlei Ausdrucksnuancen des Tempos, der Dynamik und der Harmonik die entscheidenden Stationen der Handlung: Höfisch-elegant in Symons Huldigung an die Schönheit der Polin („Ich knüpfte manche zarte Bande“), kokett plaudernd im Duett zwischen Symon und Laura („Ich setz’ den Fall“) bis zur gewaltig auftrumpfenden Orchestermazurka während der Hochzeitsfests. Zum großen Erfolg des Premierenabends trugen zwei Stars der Wiener Operette bei. Als Oberst Ollendorf betrat Felix Schweighofer die Bühne, der auch in Operettenaufführungen von Johann Strauß die erste Wahl im Fach des singenden Komikers war. Ihm zur Seite stand als Symon der beliebte Sänger Alexander Girardi, der drei Jahre später als erster Schweinezüchter Zsupán in der Uraufführung der Strauß-Operette Der Zigeunerbaron erneut Bühnengeschichte schreiben sollte.
Aufführungen in Berlin und Budapest
Auch im Ausland wurde Der Bettelstudent gespielt: 1883 in Berlin und Budapest, 1884 in New York und 1889 in Paris. Der gewaltige Erfolg und die damit verbundenen hohen Tantiemen ermöglichten es Millöcker, den ungeliebten Posten eines Theaterkapellmeisters endlich aufzugeben und fortan als freischaffender Komponist zu leben. Zwischen der Arbeit an neuen Operetten, darunter Gasparone und Der arme Jonathan, ging Karl Millöcker seinem Steckenpferd nach. Leidenschaftlich sammelte er mehr als 10.000 Ansichtskarten aus aller Welt, die er nach seinem Tod am Silvesterabend des Jahres 1899 zusammen mit seinen Partituren der Stadt Wien vermachte. Millöcker wurde in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. Sein Grabstein schmückt ein Relief mit einer Szene aus dem Bettelstudent. Es ist der Moment, in dem Symons wahre Identität durch Ollendorf enthüllt wird, und sein Couplet „Ach, ich hab’ sie ja nur auf die Schulter geküsst“ wurde zu Millöckers bekanntester Komposition. Nun werden der Kuss und Lauras Fächerschlag in der Operette nicht gezeigt, weil sich diese Szene vor Beginn der eigentlichen Handlung abspielt. Das veranlasste 1884 den Schriftsteller Wilhelm Henzen für eine Aufführung in Leipzig einen humoristischen Prolog zu schreiben, den er Der Kuss auf die Schulter nannte. Das Publikum konnte die Vorgeschichte nun auf der Bühne erleben, eine szenische Erweiterung der Operette, die sich aber nicht durchsetzen konnte. Im Kino wurde dieser Kuss in einer 1936 gedrehten Verfilmung gezeigt. Fritz Kampers als Ollendorf küsst Laura, gespielt von Carola Höhn, auf die besagte Schulter. In der Kinofassung von Der Bettelstudent übernahm der Tenor Johannes Heesters den Symon. Mit dieser Rolle hatte Heesters 1934 erstmals an der Wiener Volksoper gastiert und damit den Grundstock für seine Karriere gelegt, die bis heute anhält.