Samstag, 23. Februar 2013

Johann Strauß
DER CARNEVAL IN ROM




 „Auf der Musikertribüne befanden sich tausende Sänger und Orchestermitglieder, und die sollte ich dirigieren“, schrieb Johann Strauß in einem Brief von einer Tournee durch Amerika, die ihn im Sommer 1872 auch nach Boston führte, an die in Wien zurückgebliebenen Freunde. „Zur Bewältigung der Riesenmassen waren mir hundert Subdirigenten beigegeben, allein ich konnte nur die Allernächsten erkennen, und trotz der Proben war an eine Kunstleistung nicht zu denken. Plötzlich krachte ein Kanonenschuss, eine zarter Wink für uns Zwanzigtausend, dass man mit dem Konzert beginnen müsste. Ich gebe das Zeichen zur schönen blauen Donau, meine Subdirigenten folgen mir rasch und so gut sie können, und nun geht ein Heidenspektakel los, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Da wir so ziemlich zur gleichen Zeit angefangen hatten, war meine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass wir auch zur gleichen Zeit aufhörten.“

Vom Dirigierpult ans Klavier

Der Erfolg der 16 Konzerte in Boston im Umfeld eines Weltfriedensfestes war ebenso groß wie in New York, wo Strauß drei weitere Konzertabende dirigierte. Die Einladung war durch einen amerikanischen Agenten erfolgt. Obwohl der Komponist die lange und beschwerliche zweiwöchige Seereise von Bremerhaven nach New York fürchtete, überwand er seine Aversion. Der damals gigantischen Summe von 25.000 Dollar als Honorar konnte er nicht widerstehen. Nachdem Johann Strauß nach Wien zurückgekehrt war, machte er sich wieder an die Arbeit. Vor ihm lag das Libretto zu seiner zweiten Operette Der Carneval in Rom. Obwohl er bereits viele erfolgreiche Orchesterwerke wie Walzer, Polkas und Märsche geschrieben hatte, die seinen Ruhm bis nach Amerika trugen, war Strauß erst nach langem Zögern dem Rat seiner ersten Ehefrau Jetty gefolgt, auch Operetten zu komponieren. Er befürchtete, den Anforderungen des Theaters nicht gerecht zu werden, das zudem zu dieser Zeit Jacques Offenbach mit seinen Bühnenwerken wie Orpheus in der Unterwelt souverän beherrschte. So schlug im Jahr 1868 der erste Versuch von Johann Strauß, ein Bühnenwerk mit seiner Musik zu versehen, dann auch fehl. Die Operette Die lustigen Weiber von Wien nach einer Librettovorlage von Josef Braun blieb unvollendet. Johann Strauß war mit der Verzahnung von Text und Musik schlichtweg überfordert.

Ein Platzregen von Textbüchern

Deshalb nahm er bei der Niederschrift der Partitur zur Operette Indigo und die vierzig Räuber die Hilfe des erfahrenen Kapellmeisters und Komponisten Richard Genée in Anspruch, das Libretto hatte Maximilian Steiner, der Direktor des Theaters an der Wien, verfasst. Wenn sich auch bei der Uraufführung 1871 am Theater an der Wien Lob und Kritik die Waage hielten, hatte der als Walzerkönig titulierte Komponist immerhin bewiesen, dass er fähig war, für die Bühne zu schreiben, und daran wollten andere teilhaben. „So ergoss sich über mich nach der Indigo-Premiere ein Platzregen von Textbüchern“, schrieb er in einem Brief an Richard Genée. Dennoch fand Strauß trotz der Fülle an Vorlagen für seine neue Operette kein geeignetes Libretto. Maximilian Steiner machte den Komponisten dann auf einen Textentwurf von Josef Braun aufmerksam, den dieser nach einer Vorlage von Victorien Sardou verfasst hatte: Piccolino. Die 1869 in Paris uraufgeführte Opéra bouffe hatte die französischen Komponistin Marie Félicie Clémence de Reiset, Vicomtesse de Grandval, mit Musik versehen. Der französische Dichter Victorien Sardou, dessen Drama La Tosca drei Jahrzehnte später durch Giacomo Puccinis Vertonung zum Triumph auf der Opernbühne wurde, fungierte wiederholt als Pate für musikalische Bühnenwerke, in diesem Fall war es eine Wiener Operette. Zu dieser Zeit war es nicht ungewöhnlich, französische Stoffe in deutschsprachige Stücke umzuwandeln, auch Die Fledermaus, die Strauß 1874 komponierte, basierte auf dem Lustspiel Le Réveillon des französischen Autorenduos Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Der literarische Vorsprung der Franzosen vor allem auf dem Gebiet der satirischen, oft auch politisch hintergründigen Komödie war unbestreitbar. Den Bühnenwerken der französischen Schriftsteller wie Molière, Sardou, Halévy und Meilhac konnte im deutschen Sprachraum kaum etwas entgegengesetzt werden. Das erkannte nach der Uraufführung von Der Carneval in Rom auch der Rezensent der Neuen Presse: „Das Libretto ist, weil es eben Sardou entnommen, viel besser als die trostlosen Verbrechen gegen den Verstand, die man in letzter Zeit zu vernehmen gezwungen war. Es ist stellenweise zwar frivol, leichtfertig und unlogisch, selten aber roh und blödsinnig.“

Eingriffe und Umstellungen

Da die Wiener Operettenbühnen, so auch das Theater an der Wien, privat geführte Unternehmen waren, und alle Beteiligten – Theaterdirektoren, Komponisten und Librettisten – mit den Aufführungen Geld verdienen wollten, hatte man in diesen und in anderen Fällen eine enge Zusammenarbeit vereinbart, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Die Produktion einer Operette war zu dieser Zeit das, was man heute als Teamwork bezeichnet. Das von Josef Braun dem Komponisten vorgelegte Libretto enthielt zwar den vollständigen Text, in dieser Form hat Strauß die darin enthaltenen Musiknummern aber nicht vertont. Das gesamte Textbuch zu Der Carneval in Rom wurde von Richard Genée überarbeitet, kaum eine Seite blieb unverändert. Genées Eingriffe reichten von Umstellungen in der Reihenfolge von Dialogen und Musiknummern über Umformulierungen einzelner Passagen bis hin zu völlig neuen Textabschnitten. Nach Fertigstellung der Partitur wurde das Buch dem Theater an der Wien für die Probenarbeit zur Verfügung gestellt. Theaterdirektor Maximilian Steiner, der auch die Inszenierung übernahm, überarbeitete nochmals einen Großteil der Dialoge, hingegen blieben die Gesangstexte der Musiknummern von ihm unangetastet.

Ein legendäres Sängerpaar

Am 1. März 1873 war es soweit: Johann Strauß ließ es sich nicht nehmen, bei der Uraufführung von Der Carneval in Rom im Theater an der Wien persönlich am Dirigentenpult zu stehen. Das Wiener Fremdenblatt berichtete: „Die musikalische Ausbeute, die ‚Indigo’ bot, war reich, die Weisen des römischen Karnevals sind bunter und vielgestaltiger. Allerliebst hat es Herr Strauß verstanden, das sentimentale Element mit dem burschikosen zu vereinigen, beides gegen- und wechselseitig zu durchdringen.“ Maximilian Steiner hatte zudem an der Aufführung nicht gespart. Es wurden durchwegs neue Dekorationen und Kostüme angefertigt – was damals nicht immer selbstverständlich war –, ebenso bewegte sich die Sängerbesetzung mit Marie Geistinger und Albin Swoboda, zwei inzwischen legendäre Stars der Wiener Theaterszene, auf hohem Niveau. Für die Partie der Gräfin Falconi hatte Strauß auf der Sängerin Caroline Charles-Hirsch bestanden, nachdem er sie am Deutschen Theater in Budapest gehört hatte, und für sie im letzten Moment noch eine zusätzliche Koloraturarie komponiert. Die eigentliche Sensation der Premiere waren aber Statisten, die mit einer neuen Erfindung zum allerersten Mal über eine Wiener Bühne fuhren – dem Fahrrad. Nur mit der Ballettmusik wurde Strauß nicht rechtzeitig fertig. Deshalb erklang zu den Tanzszenen unter anderem Musik aus der zwei Jahre zuvor in Wien gespielten Operette Die Ente mit den drei Schnäbeln des Pariser Komponisten Emile Jonas. Die originale Ballettmusik fand erst einen Monat später in den Bühnenaufführungen Berücksichtigung, nachdem der jüngere Strauß-Bruder Eduard sie bei einem Konzert im Wiener Musikverein am 25. März 1873 erstmals präsentiert hatte.

Erotische Reize

Geboten wurde im Theater an der Wien eine jener typischen Verwechslungskomödien, die ihre Konflikte aus falschen Identitäten speisten. In Der Carneval in Rom ist es Marie, die nach Italien gereist ist, um dort den Maler Arthur zu suchen, und sich als junger Mann ausgibt. Strauß und seine Mitarbeiter Steiner und Genée wendeten diesen dramaturgischen Kunstgriff bewusst an, um dadurch männliche Zuschauer ins Theater zu locken, denen die Schaulust wichtiger war als die Musik. Der Anblick einer als Mann verkleideten Frau, die auf der Bühne in engen Hosen agierte, war für die männliche Zuschauerschaft von hohem erotischem Reiz. Hinzu kam, dass Marie alias Pepino im fünften Bild der Gräfin Falconi Avancen macht, auch diese Situation war für viele männliche Theaterbesucher sehr anregend.

Trinklied und Tarantella

Die Musik, die Johann Strauß für seine zweite Operette komponierte, wird trotz der in Rom spielenden Handlung nicht durch italienische Klänge geprägt, einzig Maries Tarantella vor dem Finale des zweiten Akts geht hier stilistisch noch am weitesten. Die Partitur lehnt sich vielmehr an die Ästhetik der Opéra comique und der deutschen Spieloper an mit mehrstimmigen Chören und musikalisch facettenreich aufgebauten Finalszenen sowie opernhaften Arien und Duetten. Lyrisch ist die Musik, die Strauß für die Partie der Marie komponierte, in den Gesängen von Arthur betont er dessen Lebensfreude, in den gemeinsamen Duetten findet der Komponist zu innigen Tönen.

Geschickte Zweitverwertung

Bis 1880 stand Der Carneval in Rom in unregelmäßigen Abständen auf dem Spielplan des Theaters an der Wien, brachte es aber insgesamt nur auf 81 Aufführungen. Strauß verdiente dennoch an seiner zweiten Operette sehr gut, denn er war äußerst talentiert, wenn es darum ging, seine Originalkompositionen einer Zweitverwertung zuzuführen. Die aus diesem wie aus seinen anderen Bühnenwerken gefilterten Tanz- und Konzertstücke – hinzu kamen die Ausgaben für Klavier zu zwei und vier Händen für den Hausgebrauch – waren für Strauß eine wichtige Einnahmequelle. Auch aus der Musik zum Carneval in Rom arrangierte er Walzer, Polkas und Märsche für Orchester, während die entsprechenden Ausgaben für Klavier, für Violine und Klavier sowie für Militärmusik von seinen Mitarbeitern – oder den Militärkapellmeistern selbst – erstellt wurden. Zudem gab das Marketing-Genie Johann Strauß den Bearbeitungen nach Melodien aus seiner zweiten Operette Der Carneval in Rom zugkräftige Titel wie Vom Donaustrande, eine Polka schnell op. 356, und Gruß aus Österreich, eine Polka Mazur op. 359, wobei der Walzer Carnevalsbilder op. 357 immerhin die Herkunft der Musik andeutet. Und als der Wiener Operettenstar Marie Geistinger, die als Marie zum Ensemble der Uraufführung gehörte, 1881 eine Gastspielreise in die Vereinigten Staaten unternahm, gehörte zu ihrem Repertoire auch Der Carneval in Rom. Darin trat sie in New York im Thalia Theater auf, das von deutschsprachigen Einwanderern besucht wurde. Es war das erste Mal, dass eine Operette von Johann Strauß am Broadway erklang.