Samstag, 26. Dezember 2009


Carl Maria von Weber EURYANTHE


Carl Maria von Weber erzielte in Berlin 1821 mit seiner Oper Der Freischütz einen überragenden Erfolg. Nach der Wiener Erstaufführung bat Domenico Barbaia, der Impresario des Hoftheaters, den Komponisten um eine neues Werk. In der Wahl des Librettos und des Stils ließ er Weber vollkommene Freiheit.

Eine große Oper

1820 schrieb Weber in einem Brief an den Wiener Dramatiker Treitschke, dass er gerne eine „große Oper“ komponieren würde. Webers Sohn Max schrieb in seinen Erinnerungen: „Diese Oper sollte nicht allein ein musikalisches Meisterwerk sein. Weber wollte das Ganze seiner poetischen Bildung, seines szenischen Taktes, seiner Bühnenpraxis und seines malerischen Geschmacks verlebendigen.“ Das Bühnenwerk sollte „eine Schöpfung von neuer und das Gesamtgebiet der Oper erweiternder und auf eine höhere Stufe hebender Art werden.“

Auf der Suche nach einem Libretto

Zunächst galt es, einen Librettisten zu finden. Mit Friedrich Kind, dem Textdichter des Freischütz, hatte Weber sich wegen Honorarfragen überworfen. Zum Dresdner Künstlerkreis um Weber gehörte die Dichterin Helmina von Chézy. Sie wurde von ihren Zeitgenossen als eine Schriftstellerin „von geringem Talent, kränklich, vereinsamt und arm“ beschrieben. Helmina von Chézy legte dem Komponisten verschiedene Sujets zur Auswahl vor, darunter die seit dem Mittelalter bekannte Geschichte von der schönen Magelone sowie das französische Märchen um die Wasserfee Melusine. Weber entschied sich für einen dritten Vorschlag. 1780 hatte Graf Louis de Tressans den Roman Histoire de Gérard de Nevers et de la belle et verteuse Euryanthe, s’amie veröffentlicht, den Helmina von Chézy ins Deutsche übertrug. Der Stoff ist in mittelalterlichen Dichtungen häufig anzutreffen. Der Mann rühmt die Treue seiner Frau, muss jedoch aufgrund gewisser Beweise von dritter Seite annehmen, dass sie ihn betrogen hat. Er plant, sich an ihr zu rächen. Schließlich werden die Verleumder entlarvt, und das Paar ist wieder vereint.

Heroisches Liebesdrama

Der Roman von Tressans kam in seiner Mischung aus heroischem Liebesdrama und Natur- und Waldromantik Webers Vorstellungen einer „großen Oper“ entgegen. Das Sujet bot Charaktergegensätze wie das engelhaft Weibliche, das Heldenhafte und das Diabolische. Weber erkannte die Möglichkeiten, die ihm Schauplätze wie Thronsäle, Wälder und düstere Felsentäler boten, die große Aufzüge mit sich formierenden Chören erlaubten. Außerdem wurde ein Grundthema der Romantik behandelt, „das Leiden, idealische Vorstellungen mit den Grausamkeiten der Realität nicht in Übereinstimmung bringen zu können“, wie Carl Maria von Weber an seine Librettistin schrieb.

Kabale und Liebe

Die Erstellung der Gesangstexte gestaltete sich schwierig. Rückblickend meinte Helmina von Chézy: „Himmelweit war ich von dem, was Weber wollte und bedurfte, vom dem, was die Scene heischte, entfernt.“ Zudem hatte Weber bisher keine durchkomponierte Oper geschrieben, was die Zusammenarbeit mit der unerfahrenen Librettistin verstärkte. Von Chézy entwarf zunächst ein an ihre Romanübersetzung angelehntes Szenarium, ohne Rücksicht auf Musiknummern zu nehmen. Graf Adolar preist die Treue seiner Verlobten Euryanthe. Graf Lysiart, der Euryanthe ebenfalls für sich gewinnen möchte, will ihn vom Gegenteil überzeugen. Im zweiten Akt muss Adolar aufgrund der ihm vorgelegten Beweise annehmen, dass seine zukünftige Gattin ihm nicht treu ist. An der Einfädelung der Intrige ist Eglantine beteiligt, die ihrerseits in Adolar verliebt ist. Erst als es gelingt, die gegen Euryanthe gerichteten Ränke aufzudecken, wird sie mit Adolar vereint.

Den Ring muss ich haben

Das Libretto wurde in seiner zweiaktigen Form achtmal und in der dreiaktigen Fassung dreimal umgearbeitet. In einem entscheidenden Punkt wichen Weber und seine Librettistin zudem von der literarischen Vorlage ab. Im Roman von Graf Louis de Tressans beobachtet Lysiardus (Lysiart) im siebten Kapitel die badende Euryanthe. Lysiardus bemerkt, dass sie „auf der rechten Brust ein schönes blaues Veilchen hat, dass sie und Gérard dies zum Wahrzeichen genommen hätten, dass wenn es ein Verwandter oder Fremder jemals erblickte, so würde ihr Freund glauben, sie habe ihn betrogen und den Willen eines andern getan.“ Das Wissen von Lysiardus um dieses Muttermal dient im Roman gegenüber Gérard (Adolar) als Beweis der Untreue von Euryanthe. Da nach einem Brief der Librettistin an Weber die Handlung der Oper „durchaus ernst und streng sittsam in ihrer Haltung“ sein sollte, und der Komponist zudem befürchtete, dass die Zensur das „Veilchen am Busen“ nicht akzeptieren würde, wurde im Opernlibretto auf die Erwähnung des Muttermals verzichtet. Um für Euryanthes Untreue einen Beweis zu konstruieren, der für den Verlauf der Handlung unverzichtbar war, wurde auf Vorschlag von Carl Maria von Weber die Geschichte um Emma eingeführt. Emma, Adolars Schwester, hatte einst aus Kummer über den Tod ihres Geliebten Selbstmord begangen, indem sie Gift aus einem Ring trank. Emma irrt nun als Geist herum. Erlösung kann sie erst finden, wenn „der Unschuld Träne netzt in höchstem Leid den Ring“. Von diesen Vorgängen wissen nur Adolar und Euryanthe. Nachdem Euryanthe ihr Geheimnis vertrauensselig Eglantine erzählt hat, erfährt auch Lysiart davon. Im zweiten Akt dient der von Eglantine aus der Gruft entwendete Ring und die damit verbundene Geschichte als vermeintlicher Beweis der Untreue.

Eine herumspukende Schwester

Das Textbuch, das nach vielen Monaten mühseliger Arbeit zur Vertonung vorlag, ist in einer ungleichmäßigen Sprache abgefasst. Die Dichterin war bestenfalls in der Lage, einige gute Einfälle und einige wenige gelungene Verse zu liefern. Helmina von Chézy war nicht imstande, Charaktere und Situationen eines anspruchsvollen Musikdramas nach Webers Wünschen und Vorstellungen zu schaffen. Dennoch hielt der Komponist an ihr fest, weil sich ihm in Dresden keine Alternative bot. Die Abstrusität verschiedener Handlungsmomente mit einer geisterhaft herumirrenden Toten, einem Giftring und einer gefährlichen Schlange, die das Glück von Euryanthe bedrohen, und die teilweise hölzernen Verse wurden nach der Uraufführung von der Kritik bemängelt. Indes wäre es falsch, allein der Dichterin die Schuld an dem zweitrangigen Libretto in die Schuhe zu schieben. Weber selbst hat immer wieder in die Dichtung eingegriffen und der Handlungsstrang um Adolars herumspukende Schwester war seine Idee.

Stürmisches Allegro

Die Komposition wurde am 29. August 1823 in Webers Sommerhaus bei Pillnitz abgeschlossen. Die Ouvertüre zu Euryanthe, wie immer bei Weber erst nach der Fertigstellung der Partitur geschrieben, deutet mit ihrer heroischen Es-Dur-Tonart und ihren feurig punktierten Rhythmen die Atmosphäre des Ritterstücks an. Zunächst zeichnet sie mit den Themen Adolars ein Bild des Helden und seiner Liebe zu Euryanthe. Das stürmische Allegro wird von einer in h-Moll komponierten Largo-Episode der gedämpften Violinen und Viola unterbrochen, eine geheimnisvolle, in konturlosem Nebel verschwimmende Geistermusik, die in der Oper Euryanthes Erzählung von Tod der Schwester Adolars begleitet. Danach setzt eine kurze Durchführung des Allegro ein; die Reprise feiert den Triumph der Liebe.

Klarheit der Melodie

Zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Oper stehen sich ein „helles“ und ein „dunkles“ Paar gegenüber. Adolar, unkompliziert und heldenhaft, und seine tugendhafte und in ihr Leid ergebene Euryanthe werden die Opfer von Lysiart und der intriganten Eglantine. Jeder dieser Figuren gibt Weber eine ihrem Charakter entsprechende Musik. Gefühlvoll-lyrisch wird Adolar in der Romanze Unter blühn’den Mandelbäumen musikalisch gezeichnet, in seinen weiteren Auftritten dem dramatischen Gang der Handlung folgend heroisch-kühn. Bei Euryanthe wird die ursprüngliche Reinheit und Klarheit der Melodie unter Verwendung von sanft webenden Streichern und im Gleichmaß ruhenden Holzbläsern in ihrem Lied Glöcklein im Tale unter dem Druck ihrer Verzweiflung in der Kantilene Hier dicht am Quell durch den Einsatz eines Fagotts dramatisch gebrochen. Lysiart wird in seiner rasenden Wut, Euryanthe nicht für sich gewinnen zu können, in der Arie So weih’ ich mich den Rachgewalten durch über mehrere Oktaven weit ausschreitende Phrasen charakterisiert. Bei Eglantine setzt Weber ein Erinnerungsmotiv ein. Das ihr gewidmete verschlagen-einschmeichelnde Motiv in den Violinen lässt den Hörer ahnen, dass ihre Freundschaft zu Euryanthe nur geheuchelt ist. Wenn Eglantine allein ist, lässt sie ihrem Hass in der Arie Er konnte mich um sie verschmähn freien Lauf, und das ihrem Wesen entsprechende Grundmotiv ihrer Falschheit begleitet sie durch die gesamte Oper. Was Richard Wagner in seiner Leitmotivtechnik zur Vollendung brachte, fand in der Komposition von Weber zu Euryanthe zum ersten Mal Anwendung, wenn auch nicht konsequent auf alle Figuren bezogen. Webers Begabung für den Einsatz der spezifischen Klangqualität der Instrumente, um einen neuartigen und reichen Orchesterklang zu erreichen, zeigt sich in Euryanthe noch konsequenter als im Freischütz. Ein typisches Beispiel ist der Hochzeitsmarsch für Lysiart und Eglantine. Die wahre Empfindung hinter dem vordergründigen Jubel zeigen rücksichtslos die Bläser durch beständiges Stören der Harmonie mit chromatischen Modulationen.

Ein glänzender Erfolg

Am 25. Oktober 1823 fand im Wiener Kärntnertor-Theater unter Webers musikalischer Leitung die Uraufführung von Euryanthe statt. In der Titelrolle gefiel die damals berühmte Sopranistin Henriette Sontag, die nur wenige Monate später an gleicher Stelle den Sopranpart bei der Weltpremiere von Beethovens Neunter Sinfonie übernehmen sollte. Nach der Premiere schrieb Weber an seine Frau, die in Bonn geborene Sängerin Caroline Brandt-Weber: „Nachts ¾ 2 Uhr. Danke Gott mit mir, mein geliebtes Leben, über den glänzenden Erfolg der Euryanthe. Müde und ermattet von allen Ehrbezeugungen, auch nachher in Gesellschaft, muss ich doch meiner geliebten Caroline noch gute Nacht und Victoria zurufen. Nach jedem Act wurde ich herausgerufen, nach dem letzten zwei Mal. Alles schwamm in Seligkeit.“

Zahlreiche Bearbeitungen

Die zeitgenössischen Kritiker zeigten sich weniger enthusiastisch. Die Oper wurde als zu lang, wirr und ermüdend empfunden. Eduard Hanslick fasste in seiner Besprechung die Diskussion zusammen: „Einige empfanden seine Musik als unhörbar, scheußlich und widerlich, andere erkannten jedoch, dass er die Empfindungen und Eigenheiten der einzelnen Personen durch seine Instrumentierung und Komposition fein herausarbeitete.“ Weder bei den Aufführungen in Wien, noch bei späteren Inszenierungen in Dresden und Berlin, erreichte Euryanthe die immensen Aufführungszahlen des Freischütz. Allgemein wurde die Schuld der mangelnden Repertoirefähigkeit auf die Librettistin Helmina von Chézy geschoben. Das führte dazu, dass im 19. Jahrhundert und weit in das Zwanzigste Jahrhundert hinein ein Dutzend Bearbeitungen von dritter Hand entstanden, darunter von Gustav Mahler 1904 für eine Aufführung an der Wiener Hofoper. Diese Bearbeitungen glichen sich in der Vorgehensweise: Szenen wurden umgestellt, Handlungsstränge eliminiert und neu erfunden, die Arien und Duette zum Teil auf andere Personen verteilt. Am radikalsten ging 1912 der Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser vor. Für eine Aufführung in Berlin 1915 schrieb er unter Verwendung der Originalkomposition von Carl Maria von Weber nach dem Grimmschen Märchen Die sieben Raben einen völlig neuen Text für eine ganz anders geartete Handlung.

Der Einfluss auf Richard Wagner

Zu den Bewunderern von Euryanthe gehörte Richard Wagner. Er erkannte bei Dirigaten der Oper in Dresden die Qualität der Musik, äußerte sich aber dennoch kritisch über die Dichtung. In seiner Abhandlung Die Oper und das Wesen der Musik schrieb er: „Man könnte sagen, Webers Melodie zur ‚Euryanthe’ sei eher fertig gewesen, als die Dichtung; um diese zu liefern, brauchte er nur jemand, der seine Melodie vollkommen im Ohre und im Herzen hatte, und ihr bloß nachdichtete; da praktisch dies aber nicht möglich war, so geriet er mit seiner Dichterin in ein ärgerlich theoretisches Hin- und Herzanken, in welchem weder von der einen, noch der anderen Seite her eine klare Verständigung möglich wurde.“ Was Wagner rückhaltlos anerkannte, war die ausgefeilte Instrumentation, und der Weber’sche Ansatz der Leitmotivtechnik fiel bei ihm auf fruchtbaren Boden. Einige Musikwissenschaftler sehen in der dramaturgischen Konstellation der Figuren zudem Parallelen zu Wagners romantischer Oper Lohengrin, die in Weimar 1850 uraufgeführt wurde. Elsa ist der Inbegriff des Guten und Unschuldigen, die durch eine Intrige eines Verbrechens angeklagt wird. Adolar findet seinen Nachfolger in Lohengrin, Lysiarts und Eglantines Nachfahren sind Telramund und Ortrud.

Abschiedsklänge

Carl Maria von Weber war 1826 zur Uraufführung seiner Oper Oberon nach London gereist. Nachdem er in England verstorben war, wurde Weber zunächst in der Gruft der Kirche St. Mary von Moorfields beigesetzt. Nach der Überführung seiner sterblichen Überreste nach Dresden fand Weber am 15. Dezember 1844 auf dem katholischen Friedhof seine letzte Ruhestätte. Richard Wagner komponierte nach Motiven aus dem langsamen Mittelteil der Ouvertüre zu Euryanthe und der Cavatine Hier dicht am Quell einen Trauermarsch für Bläser und Trommeln, der bei der feierlichen Zeremonie gespielt wurde.