Freitag, 25. Dezember 2009


Gaëtano Donizetti LUCIA DI LAMMERMOOR


Lucia di Lammermoor wurde zu einer der beliebtesten italienischen Opern. Ihr Komponist Gaëtano Donizetti war noch drei Tage nach der Uraufführung am 29. September 1835 in Neapel in einem Zustand der Verzückung, als er an den Verleger Giovanni Ricordi schrieb: „Lucia di Lammermoor ging über die Bühne, und erlauben Sie mir auf freundschaftliche Weise, schamhaft die Wahrheit zu sagen. Sie gefiel, und sie gefiel überaus, wenn ich dem Beifall und den Komplimenten glauben soll, die ich erhielt. Ich wurde viele Male herausgerufen, die Sänger sogar noch öfter. Man hörte alle Nummern mit andächtigem Schweigen und zeichnete sie mit spontanen vivas aus. La Tacchinardi, Duprez, Cosselli und Porto waren gut, und die ersten beiden besonders waren großartig.“

Koloraturfeuerwerk

Mit ‚La Tacchinardi‘ war Fanny Tacchinardi-Persiani gemeint, die erste Interpretin der Lucia. Sie war eine der berühmtesten Sängerinnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und sang die Partie der Lucia auch in der deutschen Erstaufführung in italienischer Sprache 1837 in Wien. Fanny Persiani war bereits mit elf Jahren in Schüleraufführungen im Privattheater ihres Vaters in der Nähe von Florenz aufgetreten, bevor sie 1832 ihr professionelles Debüt am Theater von Livorno in der Oper Francesca da Rimini von Fournier hatte. Sie erzielte einen glänzenden Erfolg und wurde als Starsolistin in Mailand und Florenz gefeiert. Donizetti war von ihrer Stimme dermaßen begeistert, dass er ihr die Partie der Lucia in der Uraufführung anvertraute. Seither galt diese Partie als eine der anspruchsvollsten Aufgaben des italienischen Opernrepertoires, die souveräne Beherrschung der Technik und die mühelose Bewältigung schwierigster Koloraturpassagen verlangt. Alle großen Koloratursängerinnen aus Vergangenheit und Gegenwart wetteiferten darin um die Gunst des Publikums. Adelina Patti, Nellie Melba, Selma Kurz, Amelita Galli-Curci und Toti dal Monte waren die bekanntesten Darstellerinnen der Lucia in der Schellackära. Joan Sutherland begründete in London 1959 als Lucia ihren Weltruhm und neben der australischen Sängerin waren es in der Nachkriegszeit die Sopranistinnen Renata Scotto, Beverly Sills und Leyla Gencer, die vor allem in der berühmten Wahnsinnsszene das ganze Register ihres Könnens zeigen konnten.

Maria Callas, die Tragödin

Zwischen diesen Heroinen des Operngesangs steht Maria Callas. Bis zu ihrem Debüt als Lucia in Mexiko 1952 galt die Oper Lucia di Lammermoor auf der Basis einer durch die Aufführungsgeschichte verfälschten Werkgestalt mit Kürzungen und Transpositionen als reines Prunkstück der Primadonnen. Donizetti hatte die Lucia als zwar koloraturbeweglicher, aber dem Charakter nach dramatischer Sopran ohne extreme Höhe konzipiert. Doch bereits die Interpretin der Uraufführung Fanny Persiani galt als Spezialistin des virtuosen Ziergesangs und war zwar prominent, aber nicht rollendeckend besetzt. Mit ihren zahlreichen Lucia-Auftritten überall in Europa festigte sie das falsche Rollenbild der Lucia als eines hohen Koloratursoprans. Voraussetzung dafür waren gravierende Eingriffe in Donizettis Notentext. Der von Fanny Persiani nach der Uraufführung praktizierte Austausch der dramatisch anspruchsvollen Auftrittsarie „Regnava nel silenzio“ durch ein konventionelles Bravourstück aus Donizettis Oper Rosmonda d’Inghilterra wies in diese Richtung, die durch die Aufnahme dieser Arie von Donizetti in die zweite französischsprachige Fassung von Lucia di Lammermoor 1839 sanktioniert wurde. In der Folge bürgerte es sich ein, insgesamt drei Nummern der Partitur tiefer zu transponieren, an denen Lucia beteiligt war. Transponiert wurden ihre Auftrittsarie um einen halben Ton, das Duett mit Edgardo und die Wahnsinnsarie um einen ganzen Ton, um den Sängerinnen die Interpolation von Spitzentönen zu erleichtern. Die offizielle Ricordi-Partitur und die Klavierauszüge wiesen im Gegensatz zum Autograph zusätzlich Änderungen des Orchestersatzes und in der Instrumentation auf. Donizetti war an diesen Transpositionen nicht ganz unschuldig. Er hatte die Kadenz in der Wahnsinnsarie lediglich formelhaft markiert, überließ ihre Ausgestaltung aber der jeweiligen Interpretin.

Rückkehr zur Originalgestalt

Die Tradition, die Sopranstimme in der Wahnsinnsszene „Spargi d’amaro pianto“ durch eine Flöte begleiten zu lassen, ging auf die Sopranistin Teresa Brambilla-Ponchielli um 1850 zurück. Als 1941 das Autograph von Lucia di Lammermoor als Faksimile veröffentlicht wurde, setzte unter sukzessiver Öffnung der Striche die Rückkehr zur Originalgestalt der Oper ein. Wenn auch die Interpretation von Maria Callas auf der Basis der verfälschten Werkgestalt beruhte, war sie die erste Sängerin, die instinktiv der Partie der Lucia über die reine Virtuosität hinaus die Dimension des Tragischen erschloss und ein Höchstmaß an dramatischer Durchdringung der Rolle erreichte, und damit eine Tradition begründete, in der heute Edita Gruberova als derzeit führende Vertreterin dieser Partie steht. Es blieb allerdings der spanischen Sopranistin Montserrat Caballé vorbehalten, in einer Schallplattenaufnahme 1976 unter Jesús López Cobos Lucia di Lammermoor erstmals wieder in der originalen Fassung vorzustellen.

Eine erzwungene Ehe

Zwei Misserfolge standen am Beginn der Aufführungsgeschichte der Oper Lucia di Lammermoor. 1829 wurde mit Henriette Sonntag in Paris die Oper Le Nozze di Lammermoor von Michele Carafa uraufgeführt, 1832 hatte in Kopenhagen ein vieraktiges romantisches Gesangsstück Premiere, das Ivar Bredal vertonte. Den Text zu Bruden fra Lammermoor lieferte der Märchendichter Hans Christian Andersen. Als Vorlage diente in beiden Fällen die 1819 entstandene Erzählung The Bride of Lammermoor des schottischen Dichters Walter Scott. Bei der erforderlichen gedrängten Darstellung des Stoffs auf der Opernbühne verarbeitete der Librettist Salvatore Cammarano, ähnlich wie in seinem Textbuch zu Verdis Oper Il Trovatore, verschiedene für das Verständnis wichtige Stellen der Scottschen Erzählung entweder gar nicht oder nur andeutungsweise. Die Verstrickungen zweier miteinander verfeindeter Familien in Schottland gegen Ende des 16. Jahrhunderts schilderte Scott in epischer Breite mit zahlreichen Nebenhandlungen vor dem Hintergrund der politischen Situation in Schottland 1712 unmittelbar vor dem Anschluss an England. Cammarano hat davon kaum etwas übernommen. Er reduzierte die Romanvorlage auf die prägnanten Momente der Handlung. Erzählt wird die Geschichte einer schottischen Adligen, die durch Familienfehden und das politisch motivierte Kalkül ihres Bruders Ashton von ihrem Geliebten getrennt wird. Ashton zwingt sie, einen ungeliebten Mann zu heiraten, den sie in der Hochzeitsnacht umbringt. Nach ihrer Tat verliert sie den Verstand und stirbt. Ihr Geliebter Edgardo ersticht sich darauf hin, um wenigstens im Tod mit ihr vereint zu sein.

Wohlklang und Dramatik

Cammarano destillierte für sein Opernbuch aus Scotts verzweigtem Geschichtspanorama eine düstere Ballade. Hass und Liebe, Grausamkeit und Reue bestimmen die Handlung um Lucia und Edgardo, die Donizetti in seinem bewährten musikalischen Stil vertonte, der durch empfindungsreiche Melodik und dramatische Kraft gekennzeichnet war. Lucia di Lammermoor wurde zum Höhepunkt in Donizettis bisherigen Schaffen. Cammarano erfüllte Donizetti in seinem 51. Bühnenwerk den Wunsch nach einer psychologisch durchgearbeiteten Oper mit lyrisch-dramatischen Momenten in einer bilderreichen, selbst schon melodiösen Sprache. Der Komponist wurde durch das Textbuch zu einer differenzierten Orchesterbehandlung inspiriert. In Vor- und Zwischenspielen wurde dem Orchester eine neuartige erzählerische Funktion übertragen, die Donizetti in seinen folgenden Opern beibehielt. Zu den von Anfang an bewunderten Glanznummern der Partitur gehören neben Lucias Auftrittsarie („Regnava nel silenzio“), ihrem Duett mit Edgardo („Sulla tomba“) und dessen Finalarie („Fra poco a me ricovero“) vor allem das Sextett im zweiten Akt („Chi mi frena“) und die so genannte Wahnsinnsarie der Lucia („Ardo gl’incesi...Spargi d’amaro pianto“). Meisterhaft werden in dieser in Kavatine und Kabaletta angelegten Arie Klang und Wort zu einer Einheit verbunden, Wohlklang und Dramatik mit musikalisch-psychologischem Ausdruck kombiniert.

Eine unbefleckte Mörderin

Es war kein Zufall, dass Cammarano in der Oper Scotts Romanfigur Lucy den Namen Lucia gab. Im Italienischen ist der Vorname Lucia mit dem Begriff des Lichts (‚luce‘) verbunden. Im Gegensatz zur literarischen Vorlage, in der Lucy sich vor der Hochzeit umbringt, verwandelt sich die Titelheldin in Donizettis Oper durch die mit dem Namen verknüpfte Licht-Metaphorik in eine allegorische Figur. Lucia weist den Menschen einen Weg aus der Dunkelheit ins Licht und zeigt den Wahnsinn als Chiffre des Ausbruchs und der Flucht aus der bürgerlichen Normalität. In ihrem Schicksal spiegelte sich die gesellschaftliche Wirklichkeit der romantischen Epoche wieder, die den Frauen ein Recht auf ein eigenständiges Leben verweigerte. Aus Lucias Wahnsinn spricht bei Cammarano und Donizetti vor allem die Unschuld. Lucia ist nicht mehr von dieser Welt, dementsprechend kann sie auch nicht mehr von dieser Welt gerichtet werden. Sie hat keinen Anteil mehr an der Normalität des Lebens und wird zur Lichtgestalt, zum szenisch-ideologischen Widerspruch einer unbefleckten Mörderin.

Blumen auf den Gräbern

Die Stellung, die Lucia di Lammermoor in den Jahrzehnten des mittleren 19. Jahrhunderts einnahm, zeigte sich in zwei Romanen, in denen Donizettis Meisterwerk eine Rolle spielte. In Gustave Flauberts Roman Madame Bovary (1857) ist das Opernhaus von Rouen einer der Orte der Handlung. Emma Bovary besucht mit ihrem Geliebten Leon eine Vorstellung der Oper. In der Abschiedsszene der Liebenden empfindet Madame Bovary in der Musik die Enthüllung ihrer neuen Liebe. Flaubert schrieb: „Die gesamte stretta wurde wiederholt, die Liebenden sprachen von den Blumen auf ihren Gräbern, von Eiden, von Exil, von Fatalität, von Hoffnung, und als sie schließlich voneinander Abschied nahmen, stieß Emma einen scharfen Schrei aus, der sich mit den Schwingungen der Schlussakkorde vermischte.“ In Anna Karenina von Leo Tolstoi (1877) wird Lucia di Lammermoor zitiert, als Anna die Gesellschaft herausfordert und ihren Geliebten Vronsky in der Oper aufsucht. Dort hört sie Adelina Patti in der Partie der unglücklichen Opernfigur. Tolstoi setzt die Musik von Donizetti in Relation zu Annas tiefen Empfindungen und ihren verzweifelten Gefühlen. Sowohl Madame Bovary als auch Anna Karenina wagten die Revolte gegen die Gesellschaft, indem sie das Recht auf eine selbstbestimmte Partnerwahl für sich in Anspruch nahmen. Die Oper Lucia di Lammermoor wird in beiden Romanen zum Symbol von unerfüllter Liebe und von menschlichen Beziehungen, die durch bürgerliche Normen zerstört werden.