Die goldene Ära der Operette ging nach dem Tod des Walzerkönigs Johann Strauß 1899 in die silberne Ära über, deren herausragende Repräsentanten Franz Lehár, Leo Fall und Robert Stolz waren. Zu diesem Kreis weltweit erfolgreicher Operettenkomponisten gehörte auch der in Ungarn 1882 geborene Emmerich Kálmán.
Erst Jurist, dann Komponist
Er erhielt in Budapest neben einem Jurastudium zunächst eine pianistische Ausbildung, die wegen eines chronischen Armleidens abgebrochen werden musste. Kálmán nahm nun Kompositionsunterricht. Seine erste Operette Tatárjárás kam 1908 in Budapest heraus und wurde auch in Wien als Ein Herbstmanöver erfolgreich aufgeführt. Kálmáns musikalische Synthese von Realismus und Romantik, von ungarischer Bravour und internationaler Eleganz verhalfen 1915 ebenso der Operette Die Csárdásfürstin zum Erfolg. Auch in seinen viel gespielten Bühnenwerken der Zwanzigerjahre wie Gräfin Mariza (1924) und Die Zirkusprinzessin (1926) bildeten folkloristisch-ungarische Klänge, Wiener Walzerseligkeit und moderne Tanzrhythmen eine unverwechselbare und persönliche Tonsprache. Nach der großen Schaffensphase folgten mit Der Teufelsreiter (1932) und Kaiserin Josephine (1936) zwei nur mäßig erfolgreiche Operetten. 1938 emigrierte Emmerich Kálmán mit seiner Frau Vera und seinen drei Kindern in die Vereinigten Staaten. Dort kam es 1945 in New York am Broadway zur Uraufführung seiner Operette Marinka. Gegen Ende der Vierzigerjahre ließ Kálmán sich mit seiner Familie in Paris nieder, wo er 1953 starb. Seine letzte Operette Arizona Lady wurde am Stadttheater Bern 1954 zum ersten Mal gespielt.
Graf Tassilo, ein Mitgiftjäger?
Der Vertrag über eine neue Operette von Emmerich Kálmán unter Mitwirkung der Librettisten Julius Brammer und Alfred Grünwald für das Theater an der Wien war bereits im Mai 1920 unterzeichnet worden. Zu diesem Zeitpunkt war auch die Handlung bereits vorskizziert: Der durch Spekulationsgeschäfte seines Vaters verarmte Graf Tassilo ist unter falschem Namen als Verwalter auf einem Gutshof tätig, der Gräfin Mariza gehört. Durch seine Arbeit will er seiner Schwester Lisa die Mitgift sichern. Überraschend kommt Gräfin Mariza auf das Gut. Sie möchte die angebliche Verlobung mit einem Baron Koloman Zsupán feiern, den sie aber erfunden hat, um vor ihren zahlreichen Verehrern Ruhe zu haben. Aber einen Koloman Zsupán gibt es tatsächlich und er taucht plötzlich auf, um das Eheversprechen einzulösen. Da sich Mariza aber inzwischen in Tassilo verliebt hat, weist sie Zsupán ab, der sich nun Lisa zuwendet. Doch als Mariza im zweiten Akt vermutet, dass es Tassilo nur auf ihr Vermögen abgesehen hat, reagiert sie ihm gegenüber mit Ablehnung. Doch schließlich können weder Marizas Temperament noch ihr Stolz verhindern, dass sie und Tassilo ein Paar werden.
Komm mit nach Varasdin
Der Inhalt gefiel Kálmán, der sich in der Fachzeitschrift Die Bühne 1924 näher dazu äußerte: „Ich brauche im Libretto große Affekte, Kontrastwirkungen, viel Liebe und viel Romantik. Das Salongeplätscher, Ballgeflüster, die Geistreicherei genügen mir nicht. In meinem Orchester müssen die Trompeten und Posaunen dröhnen.“ Bei der Ausarbeitung der Handlungsskizze schufen die Librettisten Brammer und Grünwald, die bereits das Textbuch zu Kálmáns Operette Die Bajadere (1921) lieferten, auf der Grundlage der 1858 erschienenen Komödie Der verarmte Edelmann von Octave Feuillet etliche Parallelen zur privaten Biografie des Komponisten. Wie sein verarmter Operettenheld Tassilo erlebte der vierzehnjährige Emmerich den Konkurs des väterlichen Betriebs. Auch das gute Verhältnis von Tassilo zu seiner Schwester Lisa fand in Kálmáns Biografie eine Entsprechung. Seine Schwester Ilonka beriet ihn in allen künstlerischen Fragen. Und genauso wie Graf Tassilo als Gutsverwalter Geld herbeischafft, unterstützte auch Kálmán, wie er sich ausdrückte, „seit Jahrzehnten die bedürftigen Mitglieder meiner Familie“. Ebenso berücksichtigten die Librettisten den Geburtsort von Kálmáns Mutter in den Versen des Duetts Komm mit nach Varasdin.
Einmal möcht’ ich wieder tanzen
Der gefeierte Wiener Star Hubert Marischka, der in Uraufführungen einiger Bühnenwerke von Franz Lehár und Oscar Straus Operettengeschichte schrieb, übernahm 1923 als Nachfolger seines verschiedenen Schwiegervaters Wilhelm Karczag die Leitung des Theaters an der Wien. Wenige Monate vor der erfolgreichen Uraufführung von Gräfin Mariza am 28. Februar 1924 im Theater an der Wien wurde das fast fertige Werk Hubert Marischka vorgelegt, der die Partie des Tassilo übernehmen wollte. Doch Marischka missfiel, dass sich in der vorläufigen Endfassung der ehemalige Offizier Tassilo im Finale des ersten Akts von der hochmütigen Mariza abkanzeln lässt, weil er nicht für seine Arbeitgeberin singen möchte. Um dieses Handlungsmoment zu ändern, schlug Marischka vor, ein szenisches Handlungsmotiv aus der Operette Das Finanzgenie von Béla Zerkovitz aufzugreifen, in der er 1915 aufgetreten war. Dort riss ein verarmter ungarischer Graf dem Primas einer Zigeunerkapelle die Geige aus der Hand, um damit seiner Geliebten einen wilden Csárdás vorzuspielen. Brammer und Grünwald griffen die Idee auf, und konzipierten daraus für den ersten Aufzug das effektvolle Finale Komm, Zigan, spiel mir was vor, auch weil Hubert Marischka es liebte, nicht nur als Sänger, sondern zugleich als Geigenvirtuose auf der Bühne zu glänzen.
Junge Talente
Der Weltpremiere folgten allein in Wien mehr als 700 Aufführungen. Als Mariza brillierte Betty Fischer, die bereits in der Uraufführung von Die Rose von Stambul (1916) von Leo Fall auftrat und 1926 auch in der Premiere der folgenden Kálmán-Operette Die Zirkusprinzessin die Titelpartie übernahm. Als Lisa verpflichtete Direktor Marischka das junge Talent Elsie Altmann, die anschließend eine bedeutende Karriere als Operettensängerin in Wien hatte und zeitweise mit dem Architekten Adolf Loos verheiratet war. Als Zsupán agierte der dänische Sänger Max Hansen, den Marischka in einem Wiener Varieté entdeckte. Hansen stieg danach zu einem der erfolgreichsten Operettendarsteller seiner Zeit auf und war 1930 der Leopold in der Berliner Uraufführung der Revueoperette Im weißen Rössl. Das Ensemble wurde durch die Wiener Volksschauspieler Richard Waldemar als Fürst Populescu und Mizzi Gribl als Fürstin Bozena ergänzt. Im letzten Akt von Gräfin Mariza trat als Diener der Fürstin ein bis dahin nur wenig beachteter, nuschelnder Wiener Schauspieler auf, der schließlich zu den größten österreichischen Bühnen- und Filmdarstellern gehören sollte. Mit Hans Moser in der Rolle des ehemaligen Souffleurs Penizek wurde von Brammer und Grünwald der Dritte-Akt-Komiker zu neuem Leben erweckt, der den von den Komponisten oft vernachlässigten Finalakt durch witzige Pointen bereicherte. Als Vorbild diente der verlotterte Gefängnisdiener Frosch aus der Operette Die Fledermaus von Johann Strauß.
Glanz und Glitter
Die Inszenierung von Gräfin Mariza war der Beginn eines neuen, mondänen Stils der Operette am Theater an der Wien. In prachtvollen Bühnenbildern wurden durch gigantische Straußenfächer, bis ins Detail nachgebildete ungarisch-österreichische Uniformen und Abendkleider aus erlesenen Stoffen ein revueartiges Operettenmärchen geschaffen, das die Zuschauer im Wien des Jahres 1924 nur allzu gern genossen. Die Operette Gräfin Mariza brachte im tristen Nachkriegsösterreich Glanz und Glitter auf die Bühne und verklärte zudem unkritisch eine Gesellschaftsordnung, die seit 1918 nicht mehr existierte: Kálmán und seine Librettisten besangen das verlorene Paradies der Doppelmonarchie mit seinem Gepränge, mit munter aufspielenden Zigeunern sowie champagnerschlürfenden und ineinander verliebten Adligen.
Csárdás und Foxtrott
Die übergroße Bühnenresonanz hätte Kálmáns Operette jedoch nicht gefunden, wenn sie über eine pathetische Beschwörung der jüngeren Vergangenheit nicht hinausgekommen wäre. Kálmáns Meisterwerk endet nicht wie in dem fast gleichzeitig entstandenen Seelendrama Paganini (1925) von Franz Lehár in wehmütiger Entsagung des Liebespaars, sondern im Tanz und in jubelnden Operettengesängen. Abgesehen vom wirkungsvollen Aufbau des Librettos und der interessanten Charakterisierung der Hauptfiguren verhalf die geschickte Musikdramaturgie dem Werk zum bis heute anhaltenden Erfolg. Jede Nummer erwächst aus einer szenischen Situation und gegen alle Operettenkonvention hat der Tenor mit O schöne Kinderzeit ein Duett mit der Soubrette, während die Diva in Komm mit nach Varasdin mit dem Komiker kokettiert. Dazu gesellen sich weitere Evergreens der leichten Muse: Zwei Foxtrottduette für das Buffopaar, zwei große Walzerszenen für das Liebepaar sowie die einschmeichelnde Arie Wenn es Abend wird für Tassilo und das mitreißende Auftrittslied für Mariza Höre ich Zigeunergeigen, in dem sie effektvoll von einer Zigeunerkapelle begleitet wird. Auch die weiteren musikalischen Nummern ergänzen wirkungsvoll die musikalische Palette der Partitur. Das elegische Lied der Zigeunerin Manja Glück ist ein schöner Traum steht neben der ausgelassenen Tanz- und Gesangsszene Heut’ um Zehn sind wir im Tabarin. Mit ungezügelten Csárdasrhythmen und sanften Walzerweisen beschwor Emmerich Kálmán das, was die Operette ausmacht: Weltschmerz und Liebe, Vergänglichkeit und Glück.
Von der Bühne auf die Leinwand
Das Musterbeispiel der ungarisch-wienerischen Operette war auch in Deutschland ein großer und bis heute anhaltender Erfolg. Bei der Berliner Erstaufführung am
Abgesang
In New York wurde Countess Maritza 1926 am Shubert-Theatre ein Kassenschlager, doch als Gräfin Mariza in London zum ersten Mal im Jahr 1938 gespielt wurde, war Kálmáns Musik in Deutschland bereits seit fünf Jahren verboten. Keines seiner Werke wurde mehr aufgeführt – von einer bedrückenden Ausnahme abgesehen. Der Musikwissenschaftler Hans Daiber wies in seinem Buch Schaufenster der Diktatur auf eine singuläre Inszenierung der in Deutschland verbotenen Erfolgsoperette von Emmerich Kálmán in Berlin 1939 hin. Nach dem