Freitag, 1. Februar 2013


Peter Tschaikowsky JOLANTHE



Der russische Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky litt unter einem Doppelleben, dessen Enthüllung nicht nur mit gesellschaftlicher Ächtung verbunden war, sondern schlimmstenfalls mit Gefängnis und Verbannung. Um sich eine bürgerliche Fassade zu geben, heiratete er 1877 Antonina Iwanowna Miljukowa.

Flucht in die Scheinehe

An seinen Bruder Modest, der Tschaikowskys verborgene Gefühlswelten ebenfalls teilte, schrieb der Komponist: „Durch eine Heirat zu einer Frau möchte ich das ganze Pack zum Schweigen zu bringen, das ich zwar verachte, das aber den Menschen, die mir nahestehen, Kummer bereiten kann“. Die Verbindung mit Antonia war von kurzer Dauer: Wenige Wochen nach der Trauung erlitt der Komponist einen Nervenzusammenbruch. Es folgte die Trennung, obwohl das Ehepaar offiziell nie geschieden wurde. Während seiner Verlobungszeit arbeitete Tschaikowsky an einem Werk, in dem es um verbotene Liebe und die damit verbundenen Qualen ging. Der russische Autor Konstantin Zvantsyev hatte Tschaikowsky Anfang 1876 ein Opernlibretto zur Vertonung angeboten. Die Stoffvorlage lieferte eine Erzählung aus der um 1300 geschriebenen Divina Commedia des italienischen Dichters Dante Alighieri, die Geschichte der Francesca da Rimini. Die Patriziertochter Francesca wird gegen ihren Willen mit dem buckligen und grausamen Gianciotto verheiratet, liebt aber den ritterlichen Paolo, den Bruder ihres Ehemanns. Zu ihrem Unglück werden Francesca und Paolo von Gianciotto entdeckt und getötet. Das Liebespaar wird in die Hölle der Wollüstigen gestoßen.

Sinfonische Dichtung statt einer Oper

Zunächst zeigte sich Tschaikowsky an einer Opernfassung der Erzählung interessiert, beschloss aber nach Diskussionen mit dem Autor um das Textbuch kein Bühnenwerk zu komponieren, sondern die Sinfonische Dichtung Francesca da Rimini. Die Einleitung trägt in der Partitur die Vortragsanweisung Andante lugubre (somit ein trauriges oder schauriges Andante). Abfallende melodische Linien symbolisieren den Abstieg in die Hölle; Motivwiederholungen stehen für die nicht endenden Qualen der Verdammten. Auf die Einleitung folgt ein bewegter Teil, von Tschaikowsky als Allegro vivo bezeichnet: Die wegen ihrer Fleischeslust verdammten Seelen werden von peitschenden Höllenwinden umhergewirbelt. Francescas trauriger Rückblick auf ihr Erdenleben bildet den Inhalt des lyrischen Mittelteils. Ihn prägt ein Thema, das aus zwei kontrastierenden Gedanken besteht: der erste, von der Klarinette in Moll gespielt, der zweite, von Streichern in Dur vorgetragen. Tschaikowsky verbindet sie im Verlauf von drei Variationen zu einer Einheit, bis am Ende Hornklänge die Katastrophe ankündigen: Gianciottos Erscheinen, die Enttarnung des Liebespaars und der Doppelmord. Danach wird das Liebespaar in die Hölle gerissen. Zehn gehämmerte Akkorde besiegeln die Endgültigkeit ihrer Verdammnis.

Ein unüberschreitbarer Abgrund

Auch in seiner letzten Oper um die blinde Königstocher Jolanthe zeigte sich Tschaikowsky entschlossen, seine Erfahrung gesellschaftlicher Ausgrenzung einzubringen. Jolanthe spielt in einer paradiesischen Traumwelt, doch die Oper wird zu Tschaikowskys Traum. Er träumt von nichts Geringerem als von einer Gesellschaft ohne Ausgrenzung und entwirft die Utopie eines gleichberechtigten Miteinanders. Zu seiner Zeit wurden Männer, die Männer liebten, stigmatisiert, und in den Ausgaben seiner Briefe und Tagebücher wurden Stellen und Passagen gekürzt oder gestrichen, in denen der Komponist von seinen sexuellen Neigungen und Beziehungen sprach. So schrieb Tschaikowsky am 9. Januar 1875 an seinen Bruder Anatoly: „Und auch das ist richtig, dass die verfluchte Homosexualität zwischen mir und den meisten Menschen einen unüberschreitbaren Abgrund bildet. Sie verleiht meinem Charakter Entfremdung, Angst vor Menschen, Scheu, unermessliche Schüchternheit, Misstrauen – mit einem Wort tausend Eigenschaften, die mich immer menschenscheuer machen.“ Die sich auf Tschaikowsky Neigungen beziehenden Briefstellen wurden nicht zuletzt von seiner Familie zensiert, die über diese Seite Tschaikowskys den Mantel des Schweigens decken wollte. Man schloss die Augen vor diesem intim-persönlichen Bereich. Das offizielle Bild eines russischen Genies sollte nicht gefährdet werden, es sollte „rein“ bleiben. Es ging zu wie in Jolanthes Garten.

Der Bruder als Librettist

Tschaikowsky lernte die Vorlage zu seiner Oper Jolanthe 1883 kennen, als er das Drama König Renés Tochter des dänischen Dichters Heinrich Hertz in der Zeitung Russki westnik in einer russischen Übersetzung von Fjodor Miller las. Das 1845 in Kopenhagen uraufgeführte Schauspiel überzeugte Tschaikowsky durch die Originalität der Handlung: Prinzessin Jolanthe ist blind, weiß es aber nicht, und niemand darf es ihr bei Todesstrafe sagen. Die Entscheidung zur Vertonung fiel erst im Frühjahr 1888, nachdem Tschaikowsky mit der Komposition seiner Fünften Sinfonie begonnen hatte. Er beauftragte seinen Bruder Modest das Libretto zu verfassen, der für ihn auch als Textdichter für die Oper Pique Dame tätig war. Modest griff für seine Gesangsverse zu Jolanthe auf eine neue russische Übersetzung von Wladimir Sotow zurück, in der das Schauspiel von Heinrich Hertz in Moskau und St. Petersburg gespielt wurde. Mit der Komposition seiner letzten Oper Jolanthe begann Tschaikowsky nach Vollendung seiner 1890 uraufgeführten Oper Pique Dame, zu der ebenfalls sein Bruder Modest das Libretto verfasste. Am 14. Dezember 1891 schloss Tschaikowsky die Partitur zu Jolanthe ab. Danach blieb ihm nur noch die Komposition seiner Sechsten Sinfonie, der Pathétique. Bereits wenige Tage nach deren Uraufführung in St. Petersburg starb der Komponist am 6. November 1893 an einer Cholera-Infektion.

Der Zar gibt sich die Ehre

Die Weltpremiere von Jolanthe erfolgte knapp ein Jahr vor seinem Tod am 6. Dezember 1892 in St. Petersburg. Für die Hauptrollen waren das berühmte Sängerehepaar Medea Mei-Figner und Nikolaj Figner engagiert, die schon Pique Dame zum Erfolg führten; der Dirigent war Riccardo Drigo. Am selben Abend wie die Oper Jolanthe wurde Tschaikowskys Ballett Der Nussknacker uraufgeführt. Ein Tag zuvor fand in Anwesenheit von Zar Alexander III. eine öffentliche Generalprobe statt. „Die Ausführung beider Werke war großartig. Seine Majestät waren entzückt, ließen mich in die Loge rufen und überschütteten mich mit Komplimenten“, konnte Tschaikowsky am folgenden Tag seinem Bruder Anatoly berichten. Die Presse war weniger beeindruckt; sowohl das Ballett als auch die Oper wurden ausgesprochen negativ behandelt. Der Komponist zeigte sich über die schlechten Kritiken gelassen. „Die ganze Petersburger Presse befasste sich mit den Beschimpfungen meiner Schöpfungen“, schrieb er seinem Bruder Anatoly. „Aber das macht mir nichts aus; denn das ist nicht neu, und ich weiß, dass ich letzten Endes mein Ziel erreichen werde.“ Nach der Petersburger Uraufführung, die es auf nur elf Vorstellungen brachte, wurde Jolanthe 1893 erstmals in Deutschland am Hamburger Opernhaus unter der musikalischen Leitung von Gustav Mahler gespielt.

Vom Dunkeln ins Licht

Die Dominanz des Orchesterparts sowie die vorzugsweise rezitativisch-arios geführten Vokalpartien deuten auf eine Orientierung am Kompositionsstil Richard Wagners hin, ohne dass Tschaikowsky dabei seinen Personalstil verleugnet hätte. Für Tschaikowsky bedeutete es zudem eine kompositorische Herausforderung, die Blindheit Jolanthes mit musikalischen Mitteln zu versinnbildlichen. Hierfür entwickelte er eine harmonische Disposition, die durch den Kontrast zwischen den dunklen B-Tonarten zu Beginn seiner Partitur und dem hellen C-Dur des Finales gekennzeichnet ist. Die Orchestereinleitung erhält ihren besonderen Reiz durch eine lediglich aus Holzbläsern und Hörnern bestehende Instrumentation, die beim Aufgehen des Vorhangs durch eine intim anmutende Kombination von Harfe und Streichern abgelöst wird. Tschaikowsky nimmt durch den Wechsel von Holzbläsern zu Harfen- und Streicherklängen die Entwicklung seiner Protagonistin voraus, die nach ihrer Heilung vom Dunkeln ins Licht geführt wird.

Sehnsüchte und Visionen

Der Garten, in dem die Handlung spielt, wird zur Allegorie. Er symbolisiert das Paradies, die Kindheit, aus dessen umhegter Sicherheit und Abgeschlossenheit der Mensch in die Fremdheit des Lebens hinaus geschickt wird. Im Verlauf der Oper wird das Idyll durch die hereindringende Realität durchbrochen, der schöne Schein erweist sich als trügerisch. Was zuvor abgeschlossen war, ist durchlässig geworden, was einst verschwiegen und verborgen werden musste, liegt offen: Jolanthe ist blind. Die Begegnung zwischen Jolanthe und Graf Vaudémont, der sie über ihre Blindheit aufklärt, wird nicht nur wegen des rauschhaften Duetts zur Schlüsselszene der Oper. Trotz ihrer Blindheit, von der Jolanthe nun weiß, zeigt sie sich selbstbewusst: „Ritter, um die Schönheit des Universums zu erkennen, brauche ich kein Licht. Kann man das Gezwitscher der Vögel in den Rosensträuchern sehen? Das Leben der Natur ist unveränderlich, selbst wenn die Welt in Dunkelheit getaucht ist.“ Vaudémont wird mit einem Menschen konfrontiert, der durch sein Anders- und Ausgegrenztsein nicht minder fähig ist, „Gott zu preisen“ und vollwertig für sich zu sprechen. Jolanthe besteht trotz ihrer Behinderung und ihres Außenseitertums auf ihrem Sein als kompletter Mensch. Sie sagt nichts weniger als: Ich bin ein Mensch! Ich will mein Leben. Mit Jolanthe schrieben die Tschaikowsky-Brüder eine Oper, in der niemand bestraft, niemand abgewiesen wird oder entsagen muss; sie zeigen ihre Vision einer Gesellschaft ohne Ausgrenzung. Im Finale wird kein hohes Paar besungen oder eine Errungenschaft, sondern etwas Umfassenderes: Die Erfüllung des persönlichen Glücks! Die „Sonne Gottes“ zeigt sich allumfassend und strahlt auch noch aus dem „geringsten“ seiner Geschöpfe.