Freitag, 30. April 2010

Opern nach Alexander Puschkin


Der russische Autor Alexander Puschkin schuf Werke des kritischen Realismus. Seine Dichtungen regten viele Opernkomponisten zu Vertonungen an.

Die Utopie der Freiheit

Die russische Gesellschaft im 19. Jahrhundert war geprägt durch eine antidemokratische Zarenherrschaft, die verbunden mit einer unnachgiebigen Zensur den Künstlern die Luft zum Atmen nahm. Puschkin stieß wegen seines ungebändigten Charakters immer wieder an Grenzen. Die erträumte Freiheit erreichte er nur in seinen Dichtungen. Die geistigen Ketten seiner Zeit im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts versuchte er durch Ironie, Sarkasmus und Provokation zu sprengen. Als Wegbereiter des kritischen Realismus fand sein literarisches Gesamtwerk über die Grenzen Russlands hinaus auch in Europa Anerkennung. Der Dichter, der nur 37 Jahre alt wurde, prägte mit seinem Schaffen nachfolgende Künstlergenerationen, und inspirierte die Komponisten der russischen Schule zu mehr als zwei Dutzend Opern.

Kritischer Realismus in der Oper

Peter Tschaikowski griff drei Mal auf literarische Vorlagen von Puschkin zurück. Die Aufführungen von Mazeppa (1884) nach dem epischen Gedicht Poltawa blieben auf Russland beschränkt, doch mit Pique Dame, 1890 nach Puschkins gleichnamiger Novelle komponiert, und mit den lyrischen Szenen Eugen Onegin, die 1879 nach Puschkins viel gelesenem Versroman entstanden, gelangen Tschaikowski zwei Welterfolge des Musiktheaters. Bei der Vertonung von Eugen Onegin setzte Tschaikowski seine an Puschkins kritischem Realismus orientierte Dramaturgie seiner Oper gegenüber dem Librettisten durch. Keineswegs sollte der Textdichter den gesellschaftskritischen Ton der Puschkinschen Dichtung in den Hintergrund rücken, die fortschrittliche Dimension des Werks reduzieren und stattdessen die sentimentalen Elemente betonen. Tschaikowski schrieb an den Komponisten Sergei Tanejew: »Ich pfeife darauf, dass es keine bühnenwirksame Oper wird. Dann wird sie eben nicht aufgeführt!« Tschaikowski folgte der Vorlage von Puschkin und erzählte von Menschen, die an Vereinzelung und Entfremdung leiden und daran zerbrechen. Die Geschichte der unerfüllten Zuneigung des Landmädchens Tatjana zum Lebemann Onegin ist mehr als eine private Affäre. Sowohl bei Puschkin als auch bei Tschaikowski spiegelt sie gesellschaftliche Missstände wider, die Menschen in das enge Korsett der Konvention pressen.

Eine Märchenoper als Politikum

Auch Nikolai Rimski-Korsakow, der drei Opern nach Puschkin vertonte, erfüllte 1898 im Einakter Mozart und Salieri die Intentionen des russischen Autors. Das einaktige Drama von Puschkin basierte auf dem Gerücht, der Komponist Salieri hätte den ihm überlegenen Wolfgang Amadeus Mozart aus Eifersucht vergiftet. In der Gestalt Mozarts fand Puschkin die Möglichkeit, seine Idee vom freien und unabhängigen Künstler auszudrücken. Wie ein Unwetter bricht Mozart in Salieris auf strengster Ordnung basierende Künstlerwelt ein. Mozarts Werken lag nicht die Tradition zugrunde, sondern allein die Begeisterung im Augenblick der Inspiration. Puschkin erkannte sich darin wieder: Mozart zerstörte die künstlerischen Gesetze seiner Zeit mit genialer Unbekümmertheit, so wie es Puschkin in seiner Epoche tat. Auch in märchenhafter Form hat Puschkin seine Kritik an der russischen Gesellschaft formuliert. Diese ließ Nikolai Rimski-Korsakow in seine Oper Der goldene Hahn (1909) einfließen. Originalverse von Puschkin wurden in das Libretto übernommen und mehr als siebzig Jahre nach dem Tod des Dichters zeigte sich seine gesellschaftskritische Haltung in der Geschichte der schönen und unabhängigen Schemacha, die in eine Ehe gezwungen werden soll. Die Zensur bezog Puschkins Dichtung, obwohl 1834 entstanden, auf die niedergeschlagene Revolution von 1905 und reinigte das Libretto der Oper wegen nicht zu überhörender Anspielungen auf die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Herrschern und Beherrschten von seinen Versen.

Kampf um die Freiheit

Eine der dramatischsten Episoden der russischen Geschichte waren die innenpolitischen Auseinandersetzungen gegen Ende des 16. Jahrhunderts um Zar Boris. Puschkin verband in seinem Versdrama Boris Godunow historische Wahrheit und Dichtung. Der Hinweis auf die Fragwürdigkeit einer dynastischen Legalität und die Forderung nach der Einführung einer der Demokratie angenäherten Wahlmonarchie führte dazu, dass Puschkins Drama von der Zensur zunächst nicht zum Druck freigegeben wurde. Nach der Vorlage schuf der Komponist Modest Mussorgski 1874 die Oper Boris Godunow, die im Sinn von Puschkin das Für und Wider des Gottesgnadentums diskutierte, auf das die Zaren sich beriefen. Mussorgskis Vertonung folgte der Konzeption Puschkins, der zum ersten Mal in einem russischen Schauspiel die Volksmenge nicht als malerischen Hintergrund auftreten ließ, sondern als aktiven Träger der Handlung zeigte und somit aufwertete. Am Beispiel eines Herrschers einer vergangenen Epoche zeigten sowohl Puschkin als auch Mussorgski, dass die Gewaltinhaber nicht dazu bereit waren, gesamtgesellschaftliche Interessen durchzusetzen.

Volk und Kunst

Puschkins Versepos Ruslan und Ludmilla diente Michail Glinka 1842 als Vorlage zur gleichnamigen Oper. In seinem Bühnenwerk griff Glinka die Methode Puschkins der romantischen Ironie auf, mit der sich der Dichter zu den zentralen Themen seiner Zeit geäußert hatte – zum Verhältnis von Dichter und Volk, Volk und Kunst, Geschichte und Kultur. Puschkin machte den Blick frei für Widersprüche, Kontraste und Unaufgelöstes. Der Leser wurde unversehens zu einer eigenen Stellungnahme veranlasst, was Puschkins Dichtungen in den Augen der Obrigkeit ganz besonders gefährlich machte. Im Finale der Oper Ruslan und Ludmilla fallen die Mauern eines Festsaals in Kiew. Das Volk dringt in die Gemächer ein und begibt sich auf die gleiche Ebene wie das Fürstenpaar. In der Überwindung der trennenden Mauern zeigt sich Puschkins Vision eines nicht mehr unterdrückten russischen Volks, für dessen Befreiung der Dichter ein Leben lang gekämpft hat.