Peter Tschaikowsky JOLANTHE
Der russische Komponist Peter
Iljitsch Tschaikowsky litt unter einem Doppelleben, dessen Enthüllung nicht nur
mit gesellschaftlicher Ächtung verbunden war, sondern schlimmstenfalls mit Gefängnis
und Verbannung. Um sich eine bürgerliche Fassade zu geben, heiratete er 1877 Antonina
Iwanowna Miljukowa.
Flucht in die Scheinehe
An seinen Bruder Modest, der
Tschaikowskys verborgene Gefühlswelten ebenfalls teilte, schrieb der Komponist:
„Durch eine Heirat zu einer Frau möchte ich das ganze Pack zum Schweigen zu
bringen, das ich zwar verachte, das aber den Menschen, die mir nahestehen,
Kummer bereiten kann“. Die Verbindung mit Antonia war von kurzer Dauer: Wenige
Wochen nach der Trauung erlitt der Komponist einen Nervenzusammenbruch. Es
folgte die Trennung, obwohl das Ehepaar offiziell nie geschieden wurde. Während
seiner Verlobungszeit arbeitete Tschaikowsky an einem Werk, in dem es um
verbotene Liebe und die damit verbundenen Qualen ging. Der russische Autor
Konstantin Zvantsyev hatte Tschaikowsky Anfang 1876 ein Opernlibretto zur
Vertonung angeboten. Die Stoffvorlage lieferte eine Erzählung aus der um 1300
geschriebenen Divina Commedia des
italienischen Dichters Dante Alighieri, die Geschichte der Francesca da Rimini.
Die Patriziertochter Francesca wird gegen ihren Willen mit dem buckligen und
grausamen Gianciotto verheiratet, liebt aber den ritterlichen Paolo, den Bruder
ihres Ehemanns. Zu ihrem Unglück werden Francesca und Paolo von Gianciotto
entdeckt und getötet. Das Liebespaar wird in die Hölle der Wollüstigen gestoßen.
Sinfonische Dichtung statt einer
Oper
Zunächst zeigte sich Tschaikowsky
an einer Opernfassung der Erzählung interessiert, beschloss aber nach
Diskussionen mit dem Autor um das Textbuch kein Bühnenwerk zu komponieren,
sondern die Sinfonische Dichtung Francesca
da Rimini. Die Einleitung trägt in der Partitur die Vortragsanweisung Andante lugubre (somit ein trauriges
oder schauriges Andante). Abfallende melodische Linien symbolisieren den
Abstieg in die Hölle; Motivwiederholungen stehen für die nicht endenden Qualen
der Verdammten. Auf die Einleitung folgt ein bewegter Teil, von Tschaikowsky als
Allegro vivo bezeichnet: Die wegen
ihrer Fleischeslust verdammten Seelen werden von peitschenden Höllenwinden
umhergewirbelt. Francescas trauriger Rückblick auf ihr Erdenleben bildet den
Inhalt des lyrischen Mittelteils. Ihn prägt ein Thema, das aus zwei
kontrastierenden Gedanken besteht: der erste, von der Klarinette in Moll
gespielt, der zweite, von Streichern in Dur vorgetragen. Tschaikowsky verbindet
sie im Verlauf von drei Variationen zu einer Einheit, bis am Ende Hornklänge
die Katastrophe ankündigen: Gianciottos Erscheinen, die Enttarnung des
Liebespaars und der Doppelmord. Danach wird das Liebespaar in die Hölle
gerissen. Zehn gehämmerte Akkorde besiegeln die Endgültigkeit ihrer Verdammnis.
Ein unüberschreitbarer Abgrund
Auch in seiner letzten Oper um
die blinde Königstocher Jolanthe zeigte sich Tschaikowsky entschlossen, seine
Erfahrung gesellschaftlicher Ausgrenzung einzubringen. Jolanthe spielt in einer paradiesischen Traumwelt, doch die Oper
wird zu Tschaikowskys Traum. Er träumt von nichts Geringerem als von einer
Gesellschaft ohne Ausgrenzung und entwirft die Utopie eines gleichberechtigten
Miteinanders. Zu seiner Zeit wurden Männer, die Männer liebten, stigmatisiert, und
in den Ausgaben seiner Briefe und Tagebücher wurden Stellen und Passagen
gekürzt oder gestrichen, in denen der Komponist von seinen sexuellen Neigungen
und Beziehungen sprach. So schrieb Tschaikowsky am 9. Jan uar 18 75
an seinen Bruder Anatoly: „Und auch das ist richtig, dass die verfluchte
Homosexualität zwischen mir und den meisten Menschen einen unüberschreitbaren
Abgrund bildet. Sie verleiht meinem Charakter Entfremdung, Angst vor Menschen,
Scheu, unermessliche Schüchternheit, Misstrauen – mit einem Wort tausend
Eigenschaften, die mich immer menschenscheuer machen.“ Die sich auf
Tschaikowsky Neigungen beziehenden Briefstellen wurden nicht zuletzt von seiner
Familie zensiert, die über diese Seite Tschaikowskys den Mantel des Schweigens decken
wollte. Man schloss die Augen vor diesem intim-persönlichen Bereich. Das
offizielle Bild eines russischen Genies sollte nicht gefährdet werden, es
sollte „rein“ bleiben. Es ging zu wie in Jolanthes Garten.
Der Bruder als Librettist
Tschaikowsky lernte die Vorlage
zu seiner Oper Jolanthe 1883 kennen, als
er das Drama König Renés Tochter des
dänischen Dichters Heinrich Hertz in der Zeitung Russki westnik in einer russischen Übersetzung von Fjodor Miller las.
Das 1845 in Kopenhagen uraufgeführte Schauspiel überzeugte Tschaikowsky durch die
Originalität der Handlung: Prinzessin Jolanthe ist blind, weiß es aber nicht,
und niemand darf es ihr bei Todesstrafe sagen. Die Entscheidung zur Vertonung
fiel erst im Frühjahr 1888, nachdem Tschaikowsky mit der Komposition seiner
Fünften Sinfonie begonnen hatte. Er beauftragte seinen Bruder Modest das
Libretto zu verfassen, der für ihn auch als Textdichter für die Oper Pique Dame tätig war. Modest griff für
seine Gesangsverse zu Jolanthe auf
eine neue russische Übersetzung von Wladimir Sotow zurück, in der das
Schauspiel von Heinrich Hertz in Moskau und St. Petersburg gespielt wurde. Mit
der Komposition seiner letzten Oper Jolanthe
begann Tschaikowsky nach Vollendung seiner 1890 uraufgeführten Oper Pique Dame, zu der ebenfalls sein Bruder
Modest das Libretto verfasste. Am 14. Dezember 18 91 schloss Tschaikowsky
die Partitur zu Jolanthe ab. Danach
blieb ihm nur noch die Komposition seiner Sechsten Sinfonie, der Pathétique. Bereits wenige Tage nach
deren Uraufführung in St. Petersburg starb der Komponist am 6. November 18 93 an einer Cholera-Infektion.
Der Zar gibt sich die Ehre
Die Weltpremiere von Jolanthe erfolgte knapp ein Jahr vor
seinem Tod am 6. Dezember 18 92
in St. Petersburg. Für die Hauptrollen waren das berühmte Sängerehepaar Medea
Mei-Figner und Nikolaj Figner engagiert, die schon Pique Dame zum Erfolg führten; der Dirigent war Riccardo Drigo. Am
selben Abend wie die Oper Jolanthe wurde
Tschaikowskys Ballett Der Nussknacker
uraufgeführt. Ein Tag zuvor fand in Anwesenheit von Zar Alexander III. eine
öffentliche Generalprobe statt. „Die Ausführung beider Werke war großartig. Seine
Majestät waren entzückt, ließen mich in die Loge rufen und überschütteten mich
mit Komplimenten“, konnte Tschaikowsky am folgenden Tag seinem Bruder Anatoly
berichten. Die Presse war weniger beeindruckt; sowohl das Ballett als auch die
Oper wurden ausgesprochen negativ behandelt. Der Komponist zeigte sich über die
schlechten Kritiken gelassen. „Die ganze Petersburger Presse befasste sich mit
den Beschimpfungen meiner Schöpfungen“, schrieb er seinem Bruder Anatoly. „Aber
das macht mir nichts aus; denn das ist nicht neu, und ich weiß, dass ich
letzten Endes mein Ziel erreichen werde.“ Nach der Petersburger Uraufführung,
die es auf nur elf Vorstellungen brachte, wurde Jolanthe 1893 erstmals in Deutschland am Hamburger Opernhaus unter
der musikalischen Leitung von Gustav Mahler gespielt.
Vom Dunkeln ins Licht
Die Dominanz des Orchesterparts
sowie die vorzugsweise rezitativisch-arios geführten Vokalpartien deuten auf
eine Orientierung am Kompositionsstil Richard Wagners hin, ohne dass
Tschaikowsky dabei seinen Personalstil verleugnet hätte. Für Tschaikowsky bedeutete
es zudem eine kompositorische Herausforderung, die Blindheit Jolanthes mit
musikalischen Mitteln zu versinnbildlichen. Hierfür entwickelte er eine
harmonische Disposition, die durch den Kontrast zwischen den dunklen B-Tonarten
zu Beginn seiner Partitur und dem hellen C-Dur des Finales gekennzeichnet ist.
Die Orchestereinleitung erhält ihren besonderen Reiz durch eine lediglich aus
Holzbläsern und Hörnern bestehende Instrumentation, die beim Aufgehen des
Vorhangs durch eine intim anmutende Kombination von Harfe und Streichern
abgelöst wird. Tschaikowsky nimmt durch den Wechsel von Holzbläsern zu Harfen-
und Streicherklängen die Entwicklung seiner Protagonistin voraus, die nach
ihrer Heilung vom Dunkeln ins Licht geführt wird.
Sehnsüchte und Visionen
Der Garten, in dem die Handlung spielt,
wird zur Allegorie. Er symbolisiert das Paradies, die Kindheit, aus dessen
umhegter Sicherheit und Abgeschlossenheit der Mensch in die Fremdheit des Lebens
hinaus geschickt wird. Im Verlauf der Oper wird das Idyll durch die
hereindringende Realität durchbrochen, der schöne Schein erweist sich als
trügerisch. Was zuvor abgeschlossen war, ist durchlässig geworden, was einst
verschwiegen und verborgen werden musste, liegt offen: Jolanthe ist blind. Die
Begegnung zwischen Jolanthe und Graf Vaudémont, der sie über ihre Blindheit
aufklärt, wird nicht nur wegen des rauschhaften Duetts zur Schlüsselszene der
Oper. Trotz ihrer Blindheit, von der Jolanthe nun weiß, zeigt sie sich selbstbewusst:
„Ritter, um die Schönheit des Universums zu erkennen, brauche ich kein Licht. Kann
man das Gezwitscher der Vögel in den Rosensträuchern sehen? Das Leben der Natur
ist unveränderlich, selbst wenn die Welt in Dunkelheit getaucht ist.“ Vaudémont
wird mit einem Menschen konfrontiert, der durch sein Anders- und
Ausgegrenztsein nicht minder fähig ist, „Gott zu preisen“ und vollwertig für
sich zu sprechen. Jolanthe besteht trotz ihrer Behinderung und ihres
Außenseitertums auf ihrem Sein als kompletter Mensch. Sie sagt nichts weniger
als: Ich bin ein Mensch! Ich will mein Leben. Mit Jolanthe schrieben die Tschaikowsky-Brüder eine Oper, in der
niemand bestraft, niemand abgewiesen wird oder entsagen muss; sie zeigen ihre
Vision einer Gesellschaft ohne Ausgrenzung. Im Finale wird kein hohes Paar
besungen oder eine Errungenschaft, sondern etwas Umfassenderes: Die Erfüllung
des persönlichen Glücks! Die „Sonne Gottes“ zeigt sich allumfassend und strahlt
auch noch aus dem „geringsten“ seiner Geschöpfe.