Gaëtano Donizetti VIVA LA MAMMA
Im Frühling des Jahres 1831 besuchte Felix Mendelssohn Bartholdy auf einer Italienreise die Stadt Rom. In Reisebriefen an seine Eltern berichtete er vom dolce far niente der römischen Bevölkerung, mit der er als korrekter Deutscher wenig anfangen konnte. Am 6. Juni 18 31 schrieb er: „Das Klima ist für einen großen Herrn eingerichtet, der spät aufsteht, nie zu Fuß zu gehen braucht, nichts denkt (weil das erhitzt), nachmittags seine paar Stunden auf dem Sofa schläft, dann sein Eis isst, und nachts ins Theater fährt, wo er wieder nichts zu denken findet.“
Ein Vielschreiber
Auch einen Seitenhieb auf den erfolgreichen italienischen Opernkomponisten Gaëtano Donizetti konnte Mendelssohn sich nicht verkneifen: „Daher gibt es so wenig Industrie, daher macht Donizetti eine Oper in zehn Tagen fertig; sie wird ausgezischt, aber das tut gar nichts, denn er bekommt dafür bezahlt, und kann wieder spazieren gehen. Sollte aber seine Reputation endlich gefährdet werden, so würde er wieder zuviel arbeiten müssen, und das wäre unbequem. Darum gibt er sich zu ein paar Stückchen Mühe, damit sie recht gefallen, und kann dann wieder eine Weile spazieren gehen – und schlecht schreiben.“ In einem Punkt kann Mendelssohns bissigem Urteil beigepflichtet werden: Donizetti war ein Vielschreiber, insgesamt schuf er mehr als 70 Bühnenwerke. Allein 1831, das Jahr, in dem Mendelssohn sich in Italien aufhielt, komponierte Donizetti vier Opern.
Die Marotten des Opernbetriebs
Die Uraufführung seiner 25. Oper Le convenienze teatrali hatte am 21. November 18 27 am neapolitanischen Teatro Nuovo stattgefunden. Die ursprünglich einaktige Fassung arbeitete Donizetti 1831 für eine Mailänder Aufführung in einen abendfüllenden Zweiakter um, indem er die musikalischen Nummern und die Rezitative erweiterte, das Handlungsgerüst aber beibehielt. Die neue Version trug nun den Titel Le convenienze ed inconvenienze teatrali; endgültig durchsetzen konnte sich die Oper unter dem Titel Viva la Mamma. Sie steht in einer langen Reihe von musikalischen Satiren über die Launen und Marotten von Impresarios, Sängerinnen und Sängern, Komponisten und Textdichtern, nicht zu vergessen die ehrgeizigen Mütter von Möchtegern-Primadonnen, die sich allesamt durch ihre Egozentrik das Leben schwer machen. Der Blick hinter die Kulissen eines Opernhauses, die Illusion der Teilhabe der Zuschauer am künstlerischen Schaffungsprozess gehörte von jeher zu den begehrtesten Rezeptionserlebnissen. Den zwischen zwei Primadonnen ausgetragenen Kampf ums hohe C hatte bereits Wolfgang Amadeus Mozart 1786 in seinem einaktigen Singspiel Der Schauspieldirektor verspottet, Antonio Salieri deckte Neurosen und Eitelkeiten vor und hinter den Kulissen in seinem ebenfalls 1786 komponierten Einakter Prima la musica e poi le parole auf. Ein Kapellmeister und ein Dichter streiten darüber, ob für eine neue Oper zunächst der Text entstehen soll und danach die Musik – oder umgekehrt. Als zwei aufeinander eifersüchtige Starsängerinnen sich einmischen, ufern die Diskussionen aus.
Persiflage auf das Theater
Viva la Mamma folgt den Opern von Mozart und Salieri insofern, als auch Donizetti das Theaterspielen auf dem Theater selbst persifliert. Die geltungssüchtige und exzentrische Primadonna, der affektiert-hypochondrische Tenor oder der leidgeprüfte Impressario – jeder von ihnen möchte Erfolg am Theater haben und kämpft dafür mit alle ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, Intrigen und Kabalen eingeschlossen. Als Vorlage der Handlung zu Viva la Mamma, für die Donizetti das Libretto eigenhändig verfasste, wählte er zwei Komödien des italienischen Dichters Simone Sografi: Le convenienze teatrali (Die Annehmlichkeiten des Theaters) und Le inconvenienze teatrali (Die Unannehmlichkeiten des Theaters). Aus beiden Stücken filterte er die Geschichte einer reisenden Theatertruppe, die in einer Provinzstadt eine Oper aufführen möchte. Auch Spuren seiner in Neapel 1823 erstmals gespielten komischen Oper Il fortunato inganno finden sich im Textbuch zu Viva la Mamma. Hier wie dort probt eine reisende Operntruppe für eine Aufführung und ergeht sich in ausschweifenden Diskussionen um Musik und Gesangstexte sowie die szenische Realisierung. Die resolute Sängerin Aurelia, die in Il fortunato inganno ihrer Nichte eine Hauptrolle verschaffen möchte, diente als Vorbild für Mamma Agata, die wie ihre Tochter endlich einmal auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“ stehen möchte. Mütter, die mit unermüdlichem Einsatz die Karriere ihrer Töchter vorantreiben, waren auch dem italienischen Dichter und Komponisten Benedetto Marcello vertraut. In seiner 1720 in Venedig veröffentlichten Abhandlung Il teatro alla moda sind folgende Zeilen zu lesen: „Mütter von Gesangskünstlerinnen weichen keinen Schritt von ihren Anbefohlenen. Wenn das Fräulein vor dem Direktor Probe singt, so klappen sie den Mund im Takt mit ihr auf und zu, sagen ihr die gewohnten Passagen und Triller ein. Die Frau Mutter hat die Aufgabe, dem Orchester bei den Proben das Tempo mit der Hand anzugeben, wenn das Ritornell für die Arien ihrer Tochter beginnt – und bedenkt sie am Schluss immer mit dem üblichen Bravo!“
Eine beleidigte Primadonna
Die Manöver, Streitereien und Machenschaften, die von Donizetti in Viva la Mamma szenisch-musikalisch aufbereitet wurden, waren ihm auch durch seine Tätigkeit als Kapellmeister am Teatro Carolina in Palermo bekannt. Bei der Konzeption seiner Oper erinnerte er sich an eine von ihm dirigierte Aufführung von Saverio Mercadantes Melodram Elisa e Claudio. Das Publikum unterhielt sich während der Vorstellung dermaßen laut, dass der Bassbariton Antonio Tamburini Schwierigkeiten hatte, mit seiner Stimme Gehör zu finden. Kurzerhand wechselte er ins Falsett, ein Stimmregister, in dem er offenbar über exzellente Fähigkeiten verfügte, denn das Publikum wurde aufmerksam, hörte ihm zu und applaudierte heftig. Durch den kräftigen Falsettgesang des Baritons und den damit verbundenen Beifall düpiert, rauschte die Sopranistin Caterina Lipparini wütend von der Bühne. Sie verließ das Theater, woraufhin in einer Umbaupause Antonio Tamburini das Bühnenkostüm der Lipparini anzog, das ihm viel zu klein war. In dieser grotesken Aufmachung sang Tamburini zusätzlich zu seiner eigenen auch die Rolle der Sopranistin – inklusive eines Duetts mit sich selbst. In Erinnerung an diesen unvergesslichen Theaterabend konzipierte Donizetti in seiner Oper Viva la Mamma die Partie der Mamma Agata nicht für eine Frauenstimme, sondern für einen Mann in Frauenkleidern, einen basso comico. In der Uraufführung wurde die Partie von Gennaro Luzio gesungen wurde, Antonio Tamburini trat darin erst in einer der folgenden Aufführungen auf.
Leihgaben aus eigener Hand
Donizetti ließ sich nicht nur durch die Komödien von Simone Sografi und seiner Oper Il fortunato inganno zur turbulenten Handlung von Viva la Mamma inspirieren, er nahm auch Bezug auf seine in Neapel 1826 uraufgeführte Oper Elvida. Die Handlung der fiktiven Oper Romulus ed Ersilia, die in Viva la Mamma von der Theatertruppe geprobt wird, lehnt sich in Grundzügen an Donizettis Elvida an. Aus deren Partitur entnahm er außerdem die Arie „Ah! vicino è el momento“, die Corilla zu Beginn von Viva la Mamma singt. Selbstironie blitzt in der Arie des Tenors Guglielmo „Ah! tu mi vuoihi“ auf, die in der Partitur als canta caricato bezeichnet wird. Der Sänger versucht, die hohen Spitzentöne, mit denen Donizetti seine Arien üblicherweise spickte, einigermaßen zu bewältigen. Die musikalische Satire gipfelt in temperamentvollen und zugleich karikierenden Arien und Ensembles, in denen Donizetti den Kompositionsstil von Gioacchino Rossini mit dessen unwiderstehlichen Crescendo-Spiralen nachahmt, so im Sextett-Finale des ersten Akts „Non si scherza, qui fanno davvero“. Auch Mamma Agatas Arie „Assisa a piè d’un sacco“ ist eine Parodie auf Rossini. Als Vorlage diente Desdemonas „Canzone del salice“, die Rossini 1816 für seine tragische Oper Otello komponierte.
Irritation und Intrigen
Donizettis Liebeserklärung an das Theater mit seinen Sitten und Unsitten brachte mit der theaterverrückten Mamma Agata eine der amüsantesten Bühnenfiguren hervor. Mit der Gestalt der durch ständige Anmaßungen und groteske Ambitionen die Funktionsfähigkeit des Theaterbetriebes ernsthaft gefährdenden Mamma erfand Donizetti eine zupackend-liebenswerte Bühnenerscheinung. Ihre Umtriebe und das von ihr herbeigeführte Chaos offenbaren den subversiven Humor des Komponisten. Donizetti spekuliert auf die menschliche Freude an Irritation und Destruktion. Was die handelnden Personen, die ernsthaft an einer Aufführung der Oper Romulus ed Ersilia arbeiten wollen, durch Eifersüchteleien und Intrigen vor existenzielle Probleme stellt, bringt das schadenfrohe Publikum zum Lachen.
Eine amüsante Farce
Zu Donizettis Lebzeiten wurde Viva la Mamma in Italien an allen Theatern gespielt. Erst nach 1850 geriet das Stück in Vergessenheit. 1963 wurde die Oper in Siena wiederentdeckt; eine deutsche Bearbeitung von Horst Goerges und Karlheinz Guttmann wurde erstmals 1969 von der Bayerischen Staatsoper im Cuvilliés-Theater aufgeführt. Seitdem ist Mamma Agata auch auf den deutschsprachigen Bühnen heimisch geworden, eine in ihrer Leidenschaft wie in ihrer Herrschsucht glänzendsten Rollenerfindungen des 19. Jahrhunderts. 1831 besuchte der französische Komponist Hector Berlioz eine Vorstellung in Neapel. Sein Urteil über Donizetti fiel schmeichelhafter aus als dasjenige von Felix Mendelssohn Bartholdy. Berlioz schrieb in seinen Memoiren: „Während ich in Neapel war, spielte man eine überaus amüsante Farce von Donizetti. Die Oper wird mit solchen Geist, Feuer und Brio gespielt, dass es fast jedem anderen Theater dieser Art überlegen ist“.