Freitag, 1. Februar 2013


Jacques Offenbach DIE GROSSHERZOGIN VON GEROLSTEIN



Am 1. April 1867 eröffnete Kaiser Napoleon III. die Pariser Weltausstellung. Insgesamt 32 Nationen präsentierten ihre Produkte in den Ausstellungsgebäuden auf dem Marsfeld, dazu gehörten aktuelle Erfindungen wie das Eiscreme-Soda, ein Saugwind-Harmonium und der Flugkolbenmotor. Bis tief in die Nacht hinein waren die Hallen geöffnet, und in dem angrenzenden Park konnten die Besucher beim Schein elektrischer Bogenlampen flanieren.

Stolz und Übermut

Zum ersten Mal fuhren Touristenschiffe, die so genannten Bateaux-mouches, auf der Seine durch die französische Hauptstadt, der Baron Haussmann durch großzügige Boulevards und architektonisch beeindruckende Gebäude ein neues Gesicht gab. Die Pariser Weltausstellung wurde wie von Napoleon III. beabsichtigt zur Apotheose des zweiten Kaiserreiches. Ein Chronist notierte: „Noch nie war eine Stadt von einer so gewaltigen und überschäumenden Lebensfreude besessen, noch nie eine Stadt so von Stolz und Übermut berauscht, von einem so maßlosen Festestaumel ergriffen, wie jetzt Paris!“

Eine Herzogin auf Männerfang

Selbstverständlich war Jacques Offenbach, der damals berühmteste Operettenkomponist Frankreichs, mit einem neuen Bühnenwerk auf der Weltausstellung vertreten. In der eigens für Aufführungen während der „Exposition universelle d’art et d’industrie“ geschriebenen Operette Die Großherzogin von Gerolstein nehmen seine Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy das Militär aufs Korn. Das Günstlingswesen und das militärische Brimborium eines erfundenen Kleinstaats, der für ganz Europa steht, werden ironisch beleuchtet. Die Operette beginnt mit einem Krieg gegen einen äußeren Feind, der sich als unnötig erweist und einzig zur Zerstreuung einer gelangweilten Herrscherin gedacht ist. Dieser Krieg wird im Verlauf des Dreiakters zu einer innenpolitischen Auseinandersetzung um Einfluss und Macht gewendet. Doch die Intrigen laufen ins Leere, zunehmend schiebt sich der Kampf der Geschlechter in den Vordergrund. Da zur Weltausstellung viele europäische Herrscher erwartet wurden, musste der Schauplatz der neuen Operette neutral sein – folglich beförderten die Librettisten ihre Großherzogin zur Herrscherin über den erfundenen Kleinstaat Gerolstein. Er hat mit dem idyllischen Städtchen in der Eifel nur den Namen gemeinsam. Die Anregung zum Schauplatz fanden Offenbachs Textdichter in dem 1842 von Eugène Sue veröffentlichten Fortsetzungsroman Die Geheimnisse von Paris, in dem ein Teil der Handlung in Gerolstein spielt. Der Inhalt der Operette ist hingegen eine Erfindung von Meilhac und Halévy. „Ich liebe Männer in Uniformen“, stellt die Großherzogin fest, als sie ihre Truppen inspiziert. Das hat fatale Folgen für den einfachen Soldaten Fritz und seine Verlobte Wanda, für den wichtigtuerischen General Bumm und für Prinz Paul, der sich mit der Großherzogin vermählen möchte.

Die Zensur greift ein

Ende Juli 1866 lag Jacques Offenbach das Libretto vor. Der Komponist war mit einigen Details der Textvorlage nicht einverstanden und schrieb an seine Autoren: „So verfasst ihr den zweiten Akt nicht interessant genug. Außer dem Finale kann man alles auch ohne Musik spielen, weil alles schon durch den Dialog gesagt wird.“ In einem weiteren Brief verlangte Offenbach von seinen Librettisten weitere Änderungen: „Die Verse zum Liebeserklärungs-Couplet sind so kühl, dass sie Wasser im Sommer in Eis verwandeln würden. Und Baron Puck soll die Verschwörung nicht als kalter Verräter enthüllen. Vielleicht kann er ein wenig betrunken sein, weil der General Bumm ihm Erfrischungen gegeben hat.“ Nachdem die Librettisten auf Offenbachs Wünsche eingegangen waren, legten sie das Textbuch der Zensur zur Begutachtung vor. Die Zensoren waren sich in ihrer Beurteilung nicht sicher: War die Operette aufgrund ihrer Kritik am Militär gefährlich – oder war sie lediglich eine überdrehte Posse? „Das Stück hat uns auf verschiedenen Ebenen beschäftigt“, ist im Bericht der Zensur zu lesen. „Zunächst ist uns der Titel ‚Die Großherzogin von Gerolstein’ als Nachteil erschienen, weil man auf jene fürstlichen Personen in Europa, die einen Adelstitel tragen, Rücksicht nehmen muss.“ Da die Librettisten den Zensoren jedoch glaubhaft versichern konnten, bei der Großherzogin von Gerolstein handele es sich um die Herrscherin eines fiktiven Kleinstaats, konnte die Operette ihren Titel behalten. Nach Auffassung der Zensur zeigte die Handlung jedoch zu viel Unmoral, „weil die Hauptfigur die unangenehme Angewohnheit hat, sich viel zu leicht zu verlieben.“ Somit verzichteten die Librettisten in einer Szene darauf, dass sich die Großherzogin mit Baron Grog von der Szene zurückzieht, um sich mit ihm zu amüsieren. Das Textbuch passierte nach weiteren kleineren Änderungen die Zensur. Die Uraufführung ging wenige Tage nach der Eröffnung der Weltausstellung im Pariser Théâtre des Variétés am 12. April 1867 über die Bühne.

Wo ist die Handlung?

Bei der Premiere sahen sich die Autoren in ihren Erwartungen zunächst enttäuscht. Zwar war das Publikum – wie der Librettist Ludovic Halévy in seinem Tagebuch notierte – ab dem Auftritt von General Bumm „wie in Ekstase und blieb es bis in die Mitte des zweiten Akts. Was für ein Anfang! Zu gut, um wahr zu sein! Wir spürten, dass wir von diesem Erfolg begeistert und zugleich geängstigt waren. Und wir hatten allen Grund zur Angst. Der ‚Carillon de ma grand-mere’ versetzte der Begeisterung eine kalte Dusche, und der dritte Akt mit der Segnung der Dolche und der Schleifsteine waren nicht dazu angetan, die gute Laune des Publikums wieder herzustellen. Die Vorstellung ging eine halbe Stunde nach Mitternacht zu Ende, ob gut oder schlecht war schwer zu sagen. Die Meinungen waren geteilt, sogar unsere Freunde wussten nicht, was sie uns sagen sollten.“ Für den versierten Theatermann Offenbach war nach dem lauwarmen Erfolg klar, dass er Änderungen vornehmen musste, darin bestätigten ihn auch die Rezensionen in der Pariser Presse. Beispielsweise schrieb Charles Monselet in Le Monde illustré: „Wo ist die Handlung? Das ist nur eine ewige Parodie, ein ungezügelter Spott, ein Wirbel, wo sich ein fantastisches Deutschland bewegt, ein Deutschland der Spielzeuge mit bunten, drohenden und komischen Holzsoldaten, der Federbusch am Helm, der Säbel an der Seite, der stechende Blick. Und was die Großherzogin betrifft – sie ist eine unverschämte Frau, die sich in ihre Grenadiere, Minister und Botschafter verliebt. Es gibt zahlreiche riskante Stellen in der Handlung, und die Musik hat viel zu tun, um die Moral des Stücks zu heben.“

Melodie und Pathos

Nach einigen textlichen und musikalischen Änderungen, die unter anderem die Szene der „Dolche und Schleifsteine“ betrafen, eine missglückte Parodie auf die „Schwerterweihe“ in Giacomo Meyerbeers Oper Les Huguenots, trat Die Großherzogin von Gerolstein in ihrer überarbeiteten Fassung von Paris aus ihren Siegeszug über alle europäischen Bühnen an. Offenbachs Musik wechselt geschickt zwischen frech-satirischen Couplets und empfindsamen Arien von melodischer Kraft. Zu den besonders charakteristischen Stücken der Partitur gehören das Säbellied der Großherzogin, dessen Motiv bereits in der lebhaften Ouvertüre anklingt und leitmotivisch die Partitur durchzieht, sowie ihr Couplet „Ach, wie liebe ich das Militär“. Amüsante Ensemblesätze wie die das Pathos der Oper persiflierende Szene „Ich bin nervös“ und der damit verbundene Rachegesang im 1. Finale, das Rondo-Duett der Großherzogin mit Fritz im 2. Akt und das als Gutenacht-Gruß dem Hochzeitspaar Fritz und Wanda zugesungene Notturno sind weitere Höhepunkte der Partitur.

Der türkische Sultan applaudiert

Obwohl die Autoren den Krieg als Gesellschaftsspiel zeigten, als Mittel gegen Langeweile und zur Befriedigung persönlicher Machtgelüste, besuchten alle Herrscher und Politiker, die zur Weltausstellung nach Paris gereist waren, eine Vorstellung. Dass sie selbst die Zielscheibe des Spottes und der Ironie waren, schoben sie zur Seite oder bemerkten es nicht. Die Könige von Bayern, Belgien und Portugal, der Prince of Wales, der russische Zar samt seinem Thronfolger, der Vizekönig von Ägypten sowie der Sultan der Türkei amüsierten sich in den Vorstellungen, in denen die legendäre Hortense Schneider die Großherzogin gab. Zur gleichen Zeit, noch während die Aufführungen in Paris zu sehen waren, wurde Maximilian, Erzherzog von Österreich und Kaiser von Mexiko, von dem mexikanischen Staatspräsident Benito Juárez wegen angeblichen Hochverrats vor ein Tribunal gestellt und zum Tode verurteilt. Am 19. Juni 1867 wurde er trotz internationaler Gnadenersuche in Mexiko erschossen. Offenbachs Satire auf den Militarismus musste vor der politischen Wirklichkeit kapitulieren, und auch der Komponist geriet in die Mühlen der Politik. Die Großherzogin von Gerolstein war sein letzter großer Erfolg in Paris. Weder La Périchole im darauffolgenden Jahr noch Les Brigands zwei Jahre später fanden großen Widerhall beim damaligen Publikum, und dann setzte die am 19. Juli 1870 erfolgte Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland in Offenbachs Leben eine gewichtige Zäsur. Als gebürtiger Rheinländer und somit Preuße wurde Offenbach von der französischen Presse heftig angegriffen; man warf ihm vor, immer ein überzeugter Deutscher gewesen zu sein und zitierte seine 1848 in Köln vertonten patriotischen Kampflieder. Das Pariser Kulturministerium erließ schließlich ein Verbot gegen Die Großherzogin von Gerolstein, man unterstellte der Operette „Wehrkraftzersetzung“.

Im Abseits

In der deutschen Presse hagelte es nicht weniger Kritik. Man erinnerte an das von Offenbach für Napoleon III. geschriebene Lied Gott schütze den Kaiser, der Komponist wurde als Verräter an der deutschen Sache beschimpft. Offenbach brachte seine Familie nach Spanien in Sicherheit und unternahm während des deutsch-französischen Kriegs ausgedehnte Tourneen durch Italien und Österreich. Als er nach dem Kriegsende nach Paris zurückkehrte, hatte sich der Zeitgeschmack geändert, musikalische Satiren waren nicht mehr gefragt. Offenbach versuchte sich 1875 mit La Créole und 1878 mit Madame Favart im Genre der opéra comique zu etablieren – und scheiterte. Erst mit der Oper Hoffmanns Erzählungen komponierte er ein bedeutendes Spätwerk, dessen Uraufführung in Paris 1881 er nicht mehr erlebte.