Jacques Offenbach DIE
GROSSHERZOGIN VON GEROLSTEIN
Am 1. April 18 67 eröffnete Kaiser Napoleon III. die
Pariser Weltausstellung. Insgesamt 32 Nationen präsentierten ihre Produkte in den
Ausstellungsgebäuden auf dem Marsfeld, dazu gehörten aktuelle Erfindungen wie das
Eiscreme-Soda, ein Saugwind-Harmonium und der Flugkolbenmotor. Bis tief in die Nacht
hinein waren die Hallen geöffnet, und in dem angrenzenden Park konnten die Besucher
beim Schein elektrischer Bogenlampen flanieren.
Stolz und Übermut
Zum ersten Mal fuhren Touristenschiffe,
die so genannten Bateaux-mouches, auf
der Seine durch die französische Hauptstadt, der Baron Haussmann durch großzügige
Boulevards und architektonisch beeindruckende Gebäude ein neues Gesicht gab. Die
Pariser Weltausstellung wurde wie von Napoleon III. beabsichtigt zur Apotheose des
zweiten Kaiserreiches. Ein Chronist notierte: „Noch nie war eine Stadt von einer
so gewaltigen und überschäumenden Lebensfreude besessen, noch nie eine Stadt so
von Stolz und Übermut berauscht, von einem so maßlosen Festestaumel ergriffen, wie
jetzt Paris!“
Eine Herzogin auf Männerfang
Selbstverständlich war Jacques Offenbach,
der damals berühmteste Operettenkomponist Frankreichs, mit einem neuen Bühnenwerk
auf der Weltausstellung vertreten. In der eigens für Aufführungen während der „Exposition
universelle d’art et d’industrie“ geschriebenen Operette Die Großherzogin von Gerolstein nehmen seine Librettisten Henri Meilhac
und Ludovic Halévy das Militär aufs Korn. Das Günstlingswesen und das militärische
Brimborium eines erfundenen Kleinstaats, der für ganz Europa steht, werden ironisch
beleuchtet. Die Operette beginnt mit einem Krieg gegen einen äußeren Feind, der
sich als unnötig erweist und einzig zur Zerstreuung einer gelangweilten Herrscherin
gedacht ist. Dieser Krieg wird im Verlauf des Dreiakters zu einer innenpolitischen
Auseinandersetzung um Einfluss und Macht gewendet. Doch die Intrigen laufen ins
Leere, zunehmend schiebt sich der Kampf der Geschlechter in den Vordergrund. Da
zur Weltausstellung viele europäische Herrscher erwartet wurden, musste der Schauplatz
der neuen Operette neutral sein – folglich beförderten die Librettisten ihre Großherzogin
zur Herrscherin über den erfundenen Kleinstaat Gerolstein. Er hat mit dem idyllischen
Städtchen in der Eifel nur den Namen gemeinsam. Die Anregung zum Schauplatz fanden
Offenbachs Textdichter in dem 1842 von Eugène Sue veröffentlichten Fortsetzungsroman
Die Geheimnisse von Paris, in dem ein
Teil der Handlung in Gerolstein spielt. Der Inhalt der Operette ist hingegen eine
Erfindung von Meilhac und Halévy. „Ich liebe Männer in Uniformen“, stellt die Großherzogin
fest, als sie ihre Truppen inspiziert. Das hat fatale Folgen für den einfachen Soldaten
Fritz und seine Verlobte Wanda, für den wichtigtuerischen General Bumm und für Prinz
Paul, der sich mit der Großherzogin vermählen möchte.
Die Zensur greift ein
Ende Juli 1866 lag Jacques Offenbach
das Libretto vor. Der Komponist war mit einigen Details der Textvorlage nicht einverstanden
und schrieb an seine Autoren: „So verfasst ihr den zweiten Akt nicht interessant
genug. Außer dem Finale kann man alles auch ohne Musik spielen, weil alles schon
durch den Dialog gesagt wird.“ In einem weiteren Brief verlangte Offenbach von seinen
Librettisten weitere Änderungen: „Die Verse zum Liebeserklärungs-Couplet sind so
kühl, dass sie Wasser im Sommer in Eis verwandeln würden. Und Baron Puck soll die
Verschwörung nicht als kalter Verräter enthüllen. Vielleicht kann er ein wenig betrunken
sein, weil der General Bumm ihm Erfrischungen gegeben hat.“ Nachdem die Librettisten
auf Offenbachs Wünsche eingegangen waren, legten sie das Textbuch der Zensur zur
Begutachtung vor. Die Zensoren waren sich in ihrer Beurteilung nicht sicher: War
die Operette aufgrund ihrer Kritik am Militär gefährlich – oder war sie lediglich
eine überdrehte Posse? „Das Stück hat uns auf verschiedenen Ebenen beschäftigt“,
ist im Bericht der Zensur zu lesen. „Zunächst ist uns der Titel ‚Die Großherzogin
von Gerolstein’ als Nachteil erschienen, weil man auf jene fürstlichen Personen
in Europa, die einen Adelstitel tragen, Rücksicht nehmen muss.“ Da die Librettisten
den Zensoren jedoch glaubhaft versichern konnten, bei der Großherzogin von Gerolstein
handele es sich um die Herrscherin eines fiktiven Kleinstaats, konnte die Operette
ihren Titel behalten. Nach Auffassung der Zensur zeigte die Handlung jedoch zu viel
Unmoral, „weil die Hauptfigur die unangenehme Angewohnheit hat, sich viel zu leicht
zu verlieben.“ Somit verzichteten die Librettisten in einer Szene darauf, dass sich
die Großherzogin mit Baron Grog von der Szene zurückzieht, um sich mit ihm zu amüsieren.
Das Textbuch passierte nach weiteren kleineren Änderungen die Zensur. Die Uraufführung
ging wenige Tage nach der Eröffnung der Weltausstellung im Pariser Théâtre des Variétés
am 12. April 18 67 über
die Bühne.
Wo ist die Handlung?
Bei der Premiere sahen sich die Autoren
in ihren Erwartungen zunächst enttäuscht. Zwar war das Publikum – wie der Librettist
Ludovic Halévy in seinem Tagebuch notierte – ab dem Auftritt von General Bumm „wie
in Ekstase und blieb es bis in die Mitte des zweiten Akts. Was für ein Anfang! Zu
gut, um wahr zu sein! Wir spürten, dass wir von diesem Erfolg begeistert und zugleich
geängstigt waren. Und wir hatten allen Grund zur Angst. Der ‚Carillon de ma grand-mere’
versetzte der Begeisterung eine kalte Dusche, und der dritte Akt mit der Segnung
der Dolche und der Schleifsteine waren nicht dazu angetan, die gute Laune des Publikums
wieder herzustellen. Die Vorstellung ging eine halbe Stunde nach Mitternacht zu
Ende, ob gut oder schlecht war schwer zu sagen. Die Meinungen waren geteilt, sogar
unsere Freunde wussten nicht, was sie uns sagen sollten.“ Für den versierten Theatermann
Offenbach war nach dem lauwarmen Erfolg klar, dass er Änderungen vornehmen musste,
darin bestätigten ihn auch die Rezensionen in der Pariser Presse. Beispielsweise
schrieb Charles Monselet in Le Monde illustré:
„Wo ist die Handlung? Das ist nur eine ewige Parodie, ein ungezügelter Spott, ein
Wirbel, wo sich ein fantastisches Deutschland bewegt, ein Deutschland der Spielzeuge
mit bunten, drohenden und komischen Holzsoldaten, der Federbusch am Helm, der Säbel
an der Seite, der stechende Blick. Und was die Großherzogin betrifft – sie ist eine
unverschämte Frau, die sich in ihre Grenadiere, Minister und Botschafter verliebt.
Es gibt zahlreiche riskante Stellen in der Handlung, und die Musik hat viel zu tun,
um die Moral des Stücks zu heben.“
Melodie und Pathos
Nach einigen textlichen und
musikalischen Änderungen, die unter anderem die Szene der „Dolche und Schleifsteine“
betrafen, eine missglückte Parodie auf die „Schwerterweihe“ in Giacomo Meyerbeers
Oper Les Huguenots, trat Die Großherzogin von Gerolstein in ihrer
überarbeiteten Fassung von Paris aus ihren Siegeszug über alle europäischen Bühnen
an. Offenbachs Musik wechselt geschickt zwischen frech-satirischen Couplets und
empfindsamen Arien von melodischer Kraft. Zu den besonders charakteristischen Stücken
der Partitur gehören das Säbellied der Großherzogin, dessen Motiv bereits in der
lebhaften Ouvertüre anklingt und leitmotivisch die Partitur durchzieht, sowie ihr
Couplet „Ach, wie liebe ich das Militär“. Amüsante Ensemblesätze wie die das Pathos
der Oper persiflierende Szene „Ich bin nervös“ und der damit verbundene Rachegesang
im 1. Finale, das Rondo-Duett der Großherzogin mit Fritz im 2. Akt und das als Gutenacht-Gruß
dem Hochzeitspaar Fritz und Wanda zugesungene Notturno sind weitere Höhepunkte der
Partitur.
Der türkische Sultan applaudiert
Obwohl die Autoren den Krieg als Gesellschaftsspiel
zeigten, als Mittel gegen Langeweile und zur Befriedigung persönlicher Machtgelüste,
besuchten alle Herrscher und Politiker, die zur Weltausstellung nach Paris gereist
waren, eine Vorstellung. Dass sie selbst die Zielscheibe des Spottes und der Ironie
waren, schoben sie zur Seite oder bemerkten es nicht. Die Könige von Bayern, Belgien
und Portugal, der Prince of Wales, der russische Zar samt seinem Thronfolger, der
Vizekönig von Ägypten sowie der Sultan der Türkei amüsierten sich in den Vorstellungen,
in denen die legendäre Hortense Schneider die Großherzogin gab. Zur gleichen Zeit,
noch während die Aufführungen in Paris zu sehen waren, wurde Maximilian, Erzherzog
von Österreich und Kaiser von Mexiko, von dem mexikanischen Staatspräsident Benito
Juárez wegen angeblichen Hochverrats vor ein Tribunal gestellt und zum Tode verurteilt.
Am 19. Juni 18 67 wurde
er trotz internationaler Gnadenersuche in Mexiko erschossen. Offenbachs Satire auf
den Militarismus musste vor der politischen Wirklichkeit kapitulieren, und auch
der Komponist geriet in die Mühlen der Politik. Die Großherzogin von Gerolstein war sein letzter großer Erfolg in Paris.
Weder La Périchole im darauffolgenden
Jahr noch Les Brigands zwei Jahre später
fanden großen Widerhall beim damaligen Publikum, und dann setzte die am 19. Juli 18 70 erfolgte Kriegserklärung
Frankreichs an Deutschland in Offenbachs Leben eine gewichtige Zäsur. Als gebürtiger
Rheinländer und somit Preuße wurde Offenbach von der französischen Presse heftig
angegriffen; man warf ihm vor, immer ein überzeugter Deutscher gewesen zu sein und
zitierte seine 1848 in Köln vertonten patriotischen Kampflieder. Das Pariser Kulturministerium
erließ schließlich ein Verbot gegen Die Großherzogin
von Gerolstein, man unterstellte der Operette „Wehrkraftzersetzung“.
Im Abseits
In der deutschen Presse hagelte
es nicht weniger Kritik. Man erinnerte an das von Offenbach für Napoleon III. geschriebene
Lied Gott schütze den Kaiser, der Komponist
wurde als Verräter an der deutschen Sache beschimpft. Offenbach brachte seine Familie
nach Spanien in Sicherheit und unternahm während des deutsch-französischen Kriegs
ausgedehnte Tourneen durch Italien und Österreich. Als er nach dem Kriegsende nach
Paris zurückkehrte, hatte sich der Zeitgeschmack geändert, musikalische Satiren
waren nicht mehr gefragt. Offenbach versuchte sich 1875 mit La Créole und 1878 mit Madame Favart im Genre der opéra comique zu etablieren – und scheiterte.
Erst mit der Oper Hoffmanns Erzählungen
komponierte er ein bedeutendes Spätwerk, dessen Uraufführung in Paris 1881 er nicht
mehr erlebte.