Der Seitensprung
Angelika Dittrich war anders, denn schon wenige Wochen nach der Eheschließung verwandelte sich die bis dahin sich sanftmütig gebende Lily in ein wahres Teufelsweib. Sie war nun grausam und zänkisch und ihre zynischen Äußerungen und unverhohlenen Andeutungen über das Älterwerden des Walzerkönigs auch in der Öffentlichkeit wurden immer höhnischer. Für Strauß wurde die Arbeit an seinen Operetten Das Spitzentuch der Königin (1880) und Der lustige Krieg (1881) zur Qual. Aus dem privaten Dilemma entwickelte sich schließlich ein handfester Skandal. Während der Komposition der Operette Eine Nacht in Venedig machte Lily ihre bislang geheim gehaltene Beziehung zu Franz Steiner, der damalige Direktor des Theaters an der Wien, öffentlich und zog im September 1882 aus der mit Johann Strauß gemeinschaftlich bewohnten Villa aus. Noch im Juli 1882 flehte Strauß, der Lily sein op. 400, den Kuß-Walzer gewidmet hatte, sie in einem Brief voller Vorahnung vor ihrer Reise in ein Kurbad an: „Nun lebe wohl, liebe Lily, laß Dich recht abbusserln, aber lauf mir nicht davon! Bleibe doch!“ Seine Bitte wurde nicht erfüllt. Als Strauß sich von ihr scheiden ließ, folgte Lily ihrem Geliebten Steiner, der Wien 1884 wegen immenser Schulden verlassen musste, nach Berlin. Nachdem Steiner sich von ihr trennte, blieb Lily in Berlin, wo sie als Besitzerin eines photographischen Ateliers bis zu ihrem Tod 1919 lebte.
Eine neue Operette
In das letzte Jahr der offiziellen Beziehung zu Angelika Dittrich fiel die Entstehungsgeschichte der Operette Eine Nacht in Venedig. Das Libretto stammte von Friedrich Zell und Richard Genée, mit denen Strauß bereits zusammengearbeitet hatte. Die Arbeit an Venezianische Nächte, wie das neue Werk ursprünglich hieß, gestaltete sich zu Beginn des Jahres 1882 äußerst schwierig. Noch war Lily die Gattin von Strauß und lebte mit ihm zusammen. Sie mischte sich in alles ein: in die Charakterisierung der Figuren, in die Verse und Refrains, schließlich sogar in die Komposition. Erst als sie ausgezogen war, ging die Arbeit zügig voran. Wie es üblich war, legten Zell und Genée gemeinsam die Personen und ihre Eigenschaften fest und einigten sich über den Ablauf der Handlung und den Aufbau der einzelnen Szenen. Zell machte sich dann ans Schreiben der Dialoge und arbeitete die dramatischen Effekte heraus, Genée konzentrierte sich auf die Verse und Refrains der Gesänge. Wenn Teile der Textdichtung fertig waren, wurden sie per Boten sofort zu Strauß gesandt, der unverzüglich mit der Komposition begann. Trug er Änderungswünsche am Text vor, wurden sie prompt erfüllt. Bisweilen erreichte die Librettisten sogar ein ganzer Packen mit skizzierten Musikstücken des Walzerkönigs, worauf Genée die musikalischen Einfälle mit Versen unterlegte. Wie bereits bei der Entstehung der Fledermaus nahm Genée, der auch als Komponist tätig war, mit Billigung von Johann Strauß Retuschen und Verbesserungen in der Instrumentation vor. Sogar Adele wirkte als Kopistin der Orchester- und Gesangsstimmen zu Eine Nacht in Venedig mit, wie das Werk inzwischen hieß.
Plagiatsvorwürfe
Nach Beendigung der Partitur zu Beginn des Jahres 1883 machte Strauß sich auf die Suche nach einer geeigneten Wiener Bühne für die Uraufführung. Verhandlungen mit dem Carl-Theater scheiterten ebenso, wie der Versuch, Eine Nacht in Venedig an der Hofoper unterzubringen. Die Uraufführung am Theater an der Wien stattfinden zu lassen, lehnte Strauß ab. Obwohl dort bisher sechs seiner bislang sieben Bühnenwerke ihre Weltpremieren erlebten, war Strauß eine Vergabe an die renommierteste Wiener Operettenbühne unmöglich, dessen Direktor nun mit seiner ehemaligen Gattin liiert war. Noch bevor Strauß ein Theater fand, an dem die Uraufführung stattfinden konnte, gab es einen weiteren Skandal. Die Librettisten Zell und Genée wurden des Ideendiebstahls bezichtigt. Anonyme Schreiber, dessen Identität nie geklärt wurde, behaupteten in Briefen an die Presse, die beiden Librettisten hätten für ihren Text zur Operette Eine Nacht in Venedig ganze Teile aus der 1860 in Paris uraufgeführten Oper Le Château Trompette von François Gevaert wörtlich übernommen. Um einen Plagiatsprozess abzuwenden, gaben Zell und Genée zu, sich in Grundzügen der Handlung durchaus der französischen Oper bedient zu haben, wandten sich aber energisch gegen den Vorwurf des Abschreibens. Schließlich hieß es im gedruckten Textheft und den Klavierauszügen: „Die Grundidee frei nach dem Französischen“.
Musik mit erotischem Flair
Neuere Forschungen ergaben, dass Zell und Genée ihre Anregungen weniger aus der Oper von Gevaert, als aus der 1861 in Paris uraufgeführten Operette Die Seufzerbrücke von Jacques Offenbach entnahmen. Beide Werke spielen im 18. Jahrhundert in Venedig, wo die venezianischen Bürger vor allem dem Luxus und dem Vergnügen huldigten. Der alljährlich stattfindende Karneval war der Höhepunkt dieser Lustbarkeiten. Die Handlung von Eine Nacht in Venedig spielt dementsprechend in der Nacht von Rosenmontag auf Karnevalsdienstag. In diesen Stunden sind alle gleich: Hochgeborene und Niedriggestellte, Reiche und Arme. Herzog Urbino, ein gefürchteter Schürzenjäger, ist nach Venedig aufgebrochen, um den schönen Senatorenfrauen nachzustellen. Eifersüchtige Ehemänner, fesche Liebhaber und liebreizende junge Damen wirbeln im Karneval in einer turbulenten Handlung mit vielen heiteren Verwechslungen durcheinander. Strauß entwarf in seiner Operette Eine Nacht in Venedig ein Genrebild der Epoche Casanovas und einer brillanten Musik mit erotischem Flairs. Die lebenslustige Welt der Lagunenstadt spiegelt sich bereits in der schmissigen Potpourri-Ouvertüre wieder. Lyrisch gefärbte Arien stehen neben musikalischen Szenen voller Komik und heiterer Ausgelassenheit. Marsch, Schnellpolka und Walzer wechseln sich ab und beweisen die Meisterschaft von Strauß auch in diesem Werk, das aber nicht in Wien, sondern als einzige Operette des Walzerkönigs schließlich in Berlin uraufgeführt wurde.
Die Premiere ein Debakel
In Berlin war 1883 das klassizistische Woltersdorff-Theater als Neues Friedrich-Wilhelmstädtisches Theater wieder eröffnet worden, und Julius Fritsche wollte seine Intendanz mit einer Sensation beginnen. Er hatte erfahren, dass Strauß auf der Suche nach einem Uraufführungstheater für Eine Nacht in Venedig war und bot ihm sein Berliner Theater an. Aber die Uraufführung am
Katzenjammer
Strauß, der sich in Berlin aufhielt, um die musikalischen Proben zu leiten und das Premierendirigat zu übernehmen, fand zwar die Inszenierung von Theaterdirektor Fritsche „ganz zufriedenstellend“; dennoch nahm er in Abwesenheit der Librettisten gemeinsam mit Adele quasi in letzter Minute Kürzungen und Überarbeitungen am Buch vor. Als Strauß am Abend der Uraufführung von Eine Nacht in Venedig an das mit einem Lorbeerkranz umwundene Pult trat, empfing ihn zunächst starker Beifall. Die beiden ersten Akte wurden freundlich, wenn auch nicht überschwänglich aufgenommen. Doch im dritten Akt brach sich der Unmut des Publikums gegenüber der fast unüberschaubaren Vielzahl von Personen, die sich zudem noch maskiert im venezianischen Karneval tummelten, und der dadurch zeitweise unübersichtlichen Handlung Bahn. Es kam in der Folge zum Eklat, als zur Melodie des Lagunenwalzers gesungen wurde: „Auf der Lagune bei Nacht wiegt sich die Gondel so sacht; noch schließ‘ die Augen ich kaum, da naht schon berückend ein Traum.
Die Musik gab schließlich den Ausschlag, dass Eine Nacht in Venedig dennoch erfolgreich wurde. Die Berliner Kritiker lobten die Qualität der Komposition, schonten daher den Walzerkönig und schoben die Schuld an dem Durchfall auf die Textdichter. Das Berliner Fremdenblatt erklärte: „Der von uns hochgeschätzte Johann Strauß ist diesmal leider von seinen literarischen Zuschneidern wenig gut bedient worden, sie vergriffen sich sowohl im Stoff wie im Zuschnitt. Schade um diese herrlichen Melodienblumen; sie werden, an die modrigen Spaliere des unmöglichen Librettos festgebunden, über Nacht verwelken.“ Strauß kehrte nach Wien zurück, wo bereits für den 9. Oktober, also nur sechs Tage nach der Berliner Premiere, die österreichische Erstaufführung nun doch im Theater an der Wien stattfinden sollte. Nach erneuten Änderungen am Text ging Eine Nacht in Venedig dort erfolgreich über die Bühne. Der vom Berliner Publikum geschmähte Lagunenwalzer mit den gänzlich neuen Versen „Ach, wie so herrlich zu schau’n, sind all‘ die lieblichen Frau’n; doch willst du einer vertrau’n, dann, Freundchen, auf Sand wirst du bau’n!“, musste von dem berühmten Operettenstar Alexander Girardi drei Mal wiederholt werden. Als Strauß sich nach der Premiere verbeugte, war es ihm vergönnt, eine der größten Ovationen seiner gesamten Karriere entgegen nehmen zu können. Danach wurde Eine Nacht in Venedig in ganz Europa gespielt und 1890 in deutscher Sprache in New York aufgeführt.
Korngold greift ein
Doch damit ist die Geschichte der Änderungen von Text und Musik noch nicht zu Ende. Erich Wolfgang Korngold, der vom komponierenden Wunderkind zum gefragten Lieferanten für Filmmusik in Hollywood aufstieg, schuf 1923 für das Theater an der Wien auf Anregung des Schauspielers und Theaterdirektors Hubert Marischka eine überarbeitete Fassung von Eine Nacht in Venedig mit Richard Tauber in der Rolle des Herzogs. Für ihn erweiterte Korngold die Partie um zwei Nummern. Die Arie „Sei mir gegrüßt, du holdes Venezia“ entnahm er der Strauß-Operette Simplicus und das Lied „Treu sein, das liegt mir nicht“ wurde ursprünglich als „Was mir der Zufall gab“ von dem Fischermädchen Annina gesungen. Auch an Text und Instrumentation nahmen Korngold und Marischka Änderungen vor. Weitere Umarbeitungen folgten, so in Baden-Baden 1919, Oldenburg 1936 und 1948 an der Wiener Volksoper, die sich ebenso wenig durchsetzen konnten wie eine Neubearbeitung durch Walter Felsenstein für die Komische Oper in Berlin im Jahr 1954. Die konzertant dargebotene Aufführung des Staatstheaters am Gärtnerplatz nahm als Ausgangspunkt der Produktion die Originalpartitur, die seit 1970 im Rahmen der Wiener Johann-Strauß-Gesamtausgabe vorlag, was das Festhalten an der originalen Partitur bedeutete. Nur auf das Auftrittslied des Herzogs „Sei mir gegrüßt, du holdes Venezia“ in der Korngold-Fassung wurde nicht verzichtet, dafür bekam Annina ihr Lied wieder zurück.
Ein merkwürdiges Angebot
Bereits zu Lebzeiten von Johann Strauß gehörte Eine Nacht in Venedig gemeinsam mit Die Fledermaus und Der Zigeunerbaron zu den erfolgreichsten Werken des damaligen Operettenrepertoires. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Doch trotz des Wiener Premierenjubels erinnerte Eine Nacht in Venedig den Walzerkönig stets an seine unglücklich verlaufende Ehe mit Lily und so schrieb er auf die erste Seite des Autographs die Widmung: „Meinem lieben Schwager Josef Simon als gebundenes Closette Papier. Wünsche guten Appetit!“