Sonntag, 3. November 2019



Paul Abraham
VIKTORIA UND IHR HUSAR





Sensation in Berlin! Am 16. Dezember 1929 flimmerte im UFA-Palast am Zoo der erste deutsche Tonfilm über die Leinwand. In der Liebesromanze Melodie des Herzens waren die Dialoge nun zu hören, bisher wurden sie im Stummfilm auf Zwischentiteln angezeigt. Verständlicherweise waren die Kinobesucher davon begeistert, doch dabei blieb es nicht. Um die neuen akustischen Möglichkeiten voll auszukosten, kamen Tonfilmschlager dazu. Die lieferten in diesem Fall die Komponisten Werner Richard Heymann und Robert Stolz. Auch Paul Abraham erhielt von den Filmproduzenten einen Auftrag. Schließlich spielte die Handlung von Melodie des Herzens in der Puszta und der 1892 in Serbien geborene Komponist sollte einen ungarisch gefärbten Tonfilmschlager beisteuern. Abraham ließ dafür ein Lied aus seiner im Oktober 1928 in Budapest uraufgeführten Operette Az utolsó Verebély lány (Das letzte Verebély-Mädchen) mit einem deutschen Text versehen. Willy Fritsch, der männliche Hauptdarsteller von Melodie des Herzens fiel die Ehre zu, ihn auf der Leinwand erstmal zu interpretieren. Der Schlager „Bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier, sondern nur ein ungarischer Honved-Offizier“ war dann Paul Abrahams erster Erfolg in Deutschland.
Von 1910 bis 1916 studierte er in Budapest Komposition. Danach folgte ein Engagement am Operettentheater in Budapest als Kapellmeister, aber auch als Hauskomponist, und dadurch schuf er erste Beiträge zur Unterhaltungsmusik. Viktoria und ihr Husar, mit der Abraham zu Beginn der Dreißigerjahre auf den Theaterbühnen seinen Durchbruch erlebte, war bereits seine vierte abendfüllende Operette. Uraufgeführt wurde sie in ungarischer Sprache im Februar 1930 in Budapest unter dem Titel Viktória.

Flucht ins Happy End

Die Handlung thematisierte die Zerrissenheit der Menschen, die nach dem ersten Weltkrieg mit einer aus den Fugen geratenen Welt zu kämpfen hatten. Auch der Kriegsheimkehrer Stefan Koltay wird mit einer veränderten Realität konfrontiert, sein Leben im Frieden entwickelt sich ganz anders als gedacht. Nach der Flucht aus russischer Kriegsgefangenschaft verschlägt es ihn nach Japan, wo er seiner ehemaligen Verlobten Viktoria begegnet. Da sie ihn für tot gehalten hat, ist sie mittlerweile die Gattin des amerikanischen Gesandten Cunlight geworden, mit dem sie in Tokio lebt. Koltay versucht, Viktoria zu überreden, mit ihm nach Ungarn zu fliehen. Sie aber ist entschlossen, an ihrer Ehe mit Cunlight festzuhalten, weil sie sich dazu verpflichtet fühlt. Erst viele Monate später kommt es in einem ungarischen Dorf zum Happy End. Cunlight verzichtet großmütig auf seine Rechte an Viktoria. Das Liebespaar ist wieder vereint.

Mit ungarischem Kolorit

Die deutschsprachige Erstaufführung von Viktoria und ihr Husar fand im Juli 1930 im Rahmen von Operettentagen am Stadttheater von Leipzig statt. Um dem Premierenabend einen besonderen Glanz zu verleihen, wurden hierfür Stars aus der damaligen Operettenmetropole Wien engagiert. Sie waren es, die erstmals in Deutschland die Arien und Duette anstimmten, die heutzutage zu Recht das Etikett Evergreen tragen. Man denke nur an „Mausi, süß warst du heute Nacht“, „Nur ein Mädel gibt es auf der Welt“ und „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“. Die Aufführung war ein grandioser Erfolg, bereits wenige Wochen später wurde das Ensemble auch am Berliner Metropol-Theater bejubelt. Anschließend brachte das Theater an den Wien Viktoria und ihr Husar heraus. Es folgten Aufführungen in London und Paris. Selbstverständlich griffen auch die deutschen Stadttheater zu und setzten die Novität auf ihre Spielpläne. Die Tantiemen sprudelten und der Komponist ließ sich in Berlin nieder, um dort das angenehme Leben eines erfolgreichen Unterhaltungskomponisten zu führen.
Zum Erfolg von Viktoria und ihr Husar trug bei, dass Paul Abraham mit seiner Musik etwas gänzlich Neues schuf. Abraham bereicherte das Genre der Operette mit bis dahin nicht für möglich gehaltene Klangfarben: Celesta, chinesische Trommeln, Vibraphon, Banjo, Hawaii-Gitarre, Saxophone. All dies gehörte zum Instrumentarium seiner Partitur und so glich sein Orchester mehr einer Jazzkapelle, wie überhaupt seine Musik viele Bezüge zum amerikanischen Jazz aufwies. Die heute noch existierenden Originalaufnahmen jener Jahre, die unter Abrahams persönlicher musikalischer Leitung auf Schellackplatten eingespielt wurden, zeigen eine ganz individuelle musikalische Handschrift. Eine gekonnte Synthese aus asiatischen Klängen, ungarischem Kolorit und amerikanischem Jazz. Gleiches lässt sich über seine ebenfalls erfolgreichen Operetten Die Blume von Hawaii und Ball im Savoy sagen. Weil aber Paul Abrahams Karriere in Deutschland 1933 endete und sein Name sich aufgrund seiner jüdischen Abstammung auf der Liste der nunmehr verbotenen Komponisten wiederfand, wurde in der Folge auch das gedruckte Orchestermaterial im Auftrag der neuen Machthaber vernichtet.
In der Nachkriegszeit, als Abrahams Bühnenwerke wieder gespielt werden durften, erwies sich ihre musikalische Renaissance jedoch als fragwürdig. Der Komponist befand sich zu jener Zeit im amerikanischen Exil und seine inmitten der überbordenden Lebensfreude der Weimarer Republik entstandenen Partituren wurden nun von dritter Hand durch verfälschende Arrangements klanglich geglättet und versüßlicht. Abrahams filigrane, orchestral sich dem Swing annähernden Instrumentierungen verschwanden in riesigen Streicherteppichen. Die Jazzelemente wurden gezähmt und auf Linie gebürstet. Heraus kam ein schier unsäglicher Kitsch, der Abrahams brillante Klangfarben verwässerte und sie ins Seichte und Sentimentale abrutschen ließ. Das Kecke, Freche und Frivole, was seine Musik auch auszeichnete, ging dadurch völlig verloren.
 
Ein trauriges Schicksal

Eingreifen konnte Paul Abraham nicht und er hatte von der Umformung seiner Partituren auch keine Ahnung, denn er war in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgrund von nervlicher Zerrüttung in einem amerikanischen Sanatorium untergebracht. Zuvor hatte er nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland noch einige Jahre in Österreich verbringen können, wo er in Wien drei weitere Operetten zur Uraufführung brachte. In letzter Sekunde schaffte er es 1938 nach Kuba zu entkommen. Schließlich verschlug es ihn nach New York, wo er mittellos und ohne reguläre Einnahmen ein Dasein als Barpianist fristete. Wie viele andere Exilanten, auch die der Unterhaltungsmusik, konnte er in Amerika nicht Fuß fassen. Außerdem war sein Name dort völlig unbekannt, und Paul Abraham war durch die Flucht künstlerisch am Ende – ein verloschener Vulkan.Mehr und mehr versank er in Psychosen. Seine Krankheit nahm groteske Formen an. Er halluzinierte, dass er sich mit einer bekannten Hollywooddiva verlobt habe und lud alle möglichen Leute für den nächsten Tag zu seiner Hochzeit ein. Und als er sich eines nachts mitten auf die Madison Avenue stellte, um ein imaginäres Orchester zu dirigieren, war das Maß voll. Herbeigerufene Polizisten nahmen ihn fest und lieferten ihn in die geschlossene Abteilung eines New Yorker Krankenhauses ein. Hier verbrachte er mehrere Jahre seines Lebens und erst in den Fünfzigerjahren erinnerte man sich in der Bundesrepublik an den Komponisten, den man in Deutschland zwischenzeitlich sogar für tot gehalten hatte. Erst auf Initiative einer Filmfirma, die eine Neuverfilmung der Blume von Hawaii plante, wurde Abraham in New York ausfindig gemacht.1956 kehrte er mit mittlerweile 58 Jahren nach Deutschland zurück und fand in einem Hamburger Sanatorium eine liebevolle Betreuung. Auch eine kleine Entschädigungsrente wurde ihm genehmigt, ebenso erhielt er wieder die ihm zustehenden Tantiemen, aber Paul Abraham nahm die neuerliche Begeisterung des Publikums für sein Schaffen nicht mehr wahr. Am 6. Mai 1960 starb er an einer Krebserkrankung.

Die rekonstruierte Fassung

In unserer Zeit sind seine Operetten auf den Bühnen immer noch sehr vital, doch seine Originalpartituren, auch die von Viktoria und ihr Husar, sind verschollen und die in den Nachkriegsjahren angefertigten Neuarrangements genügen nicht mehr heutigen Ansprüchen. Um den Originalsound aber wieder verfügbar zu machen, kam es in den vergangenen Jahren zu Rekonstruktionen seiner Partituren. Einen Ansatz dazu bildeten die historischen Schallplattenaufnahmen seiner Operettenschlager unter Paul Abrahams persönlicher musikalischer Leitung, die wichtige Details über die ursprüngliche Orchesterbesetzung offenlegten. Mit Hilfe dieser Informationen sowie mit Notenmaterial aus den Dreißigerjahren, das in ungarischen Theaterarchiven, teils zerfleddert, entdeckt wurde, gelang es den beiden Arrangeuren Matthias Grimminger und Henning Hagedorn im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks, Abrahams Musik von den verfälschenden Neuinstrumentierungen zu befreien und den originalgetreuen Orchesterklang wieder hörbar zu machen. Sie widmeten sich auch Viktoria und ihr Husar. Ein über die Jahrzehnte immer wieder zugekleistertes und übermaltes Bühnenwerk erklingt nun wieder im locker swingenden Sound seiner ursprünglichen Form: frech, mondän und vorlaut.