Sonntag, 27. Dezember 2009


Franz Lehár CLOCLO



„Lieber Meister, bitte schreiben Sie eine Operette nur für mich“, bat zu Beginn des Jahres 1923 die Soubrette Luise Kartousch den Komponisten Franz Lehár. Luise Kartousch war zu dieser Zeit ein Star der Wiener Operette. Sie kannte Lehár seit 1908, da sie in der Uraufführung seines heute vergessenen Einakters Der Mann mit den drei Frauen mitwirkte.

Star der Wiener Operette

1909 gehörte Luise Kartousch auch zum Ensemble der Weltpremiere der Lehár-Operette Der Graf von Luxemburg. Als lebenslustige Juliette sang sie mit ihrem Partner Bernhard Bötel als Armand erstmals das Duett „Wir bummeln durchs Leben“. Diese Uraufführung war einer der Karrierehöhepunkte der 1886 in Linz geborenen Sängerin. Luise Kartousch debütierte im Grazer Theater 1902 als Mercedes in der Oper Carmen von Georges Bizet und verabschiedete sich erst 1963 im Alter von 76 Jahren in der von Ludwig Schmidseder komponierten Operette Abschiedswalzer von ihrem Publikum.

Erfolge und Niederlagen

Der in Ungarn geborene Franz Lehár gehörte seit der Uraufführung seiner Operette Die Lustige Witwe im Jahr 1905 zu den führenden Komponisten seiner Zeit. Dennoch waren nicht alle seine Bühnenwerke so erfolgreich wie Die lustige Witwe und Der Graf von Luxemburg. Keine der darauf folgenden Operetten, darunter Eva (1909) und Endlich allein (1914), erreichten die immensen Aufführungszahlen dieser beiden Welterfolge. Große Hoffnungen setze Franz Lehár daher 1923 auf seine Operette Die gelbe Jacke. Die Handlung erzählte von einer Wienerin, die sich in einen chinesischen Prinzen verliebt hat, und ihm nach Peking folgt. Doch auch Die gelbe Jacke konnte sich nach der Uraufführung im Theater an der Wien nicht durchsetzen. Sie wurde nur drei Monate lang gespielt, trotz einer prominenten Besetzung mit den damaligen Wiener Operettenstars Hubert Marischka als chinesischer Prinz und Luise Kartousch als seine Schwester Mi. Jetzt sollte die von Luise Kartousch gewünschte Operette das ersehnte, dauerhafte Erfolgsstück werden.

Der Schrei nach dem Kinde

Als Autor wurde der erfahrene Librettist Béla Jenbach verpflichtet, der sich in Zusammenarbeit mit dem Textdichter Leo Stein durch die Gesangsverse zu der Kálmán-Operette Die Csárdásfürstin (1915) einen Namen gemacht hatte. Franz Lehár kannte den Librettisten seit 1920, als Jenbach für ihn den Text zu Die blaue Mazur schrieb. Auf der Suche nach einem Stoff, der die sängerischen und darstellerischen Vorzüge von Luise Kartousch zur Geltung bringen sollte, erinnerte sich Jenbach an einen Schwank, der 1914 erstmals im Wiener Theater in der Josefstadt gespielt worden war. In einer Besprechung der Uraufführung skizzierte die Wiener Zeitung am 8. Mai 1914 den Inhalt der Verwechslungskomödie Der Schrei nach dem Kinde von Alexander Engel und Julius Horst, die Jenbach nun in ein Operettenbuch umarbeiten wollte: „Der Bürgermeister einer französischen Provinzstadt nimmt seine kleine Freundin Cloclo in sein moralisches Haus mit. Aus den mütterlichen Bedürfnissen seiner legitimen Gattin, die in der hübschen jungen Dame eine Jugendsünde ihres Gemahls vermutet und das verlorene Kind wie eine Mutter annimmt, ergeben sich eine Fülle von drolligen und lustigen Situationen.“ In der Operette von Lehár und Jenbach ist Cloclo von der „kleinen Freundin“ in der Schwankvorlage zum umjubelten Star des Pariser Revuetheaters Folies Bergère aufgestiegen.

Eine Ohrfeige mit Folgen

Im ersten Akt befindet sie sich auf der Flucht vor der Justiz. Cloclo hat nach einer wilden Fahrt mit ihrer Kutsche durch Paris einen einschreitenden Polizisten geohrfeigt und soll als Strafe für einige Tage ins Gefängnis. Als ihr Gönner Severin sie besucht und später auch seine Frau Melousine ihr die Aufwartung macht, weil sie Cloclo als vermeintliche Tochter bei sich aufnehmen möchte, sieht die Titelheldin eine Chance, sich der Gefängnisstrafe zu entziehen. Cloclo flieht am Ende des ersten Akts nach Perpignan in das Haus des Bürgermeisters. Stattdessen wird Angèle, die Verlobte von Cloclos Verehrer Maxime de la Vallé, ins Gefängnis gesteckt. Im zweiten Akt mischt Cloclo die provinzielle Gesellschaft in Perpignan durch frivolen Gesang und freche Tanzeinlagen tüchtig auf. Als die Titelheldin nach einigen Wochen nach Paris zurückkehrt, wird sie festgenommen und verbringt den dritten Akt in einer Gefängniszelle. Dort wird ihr das karge Leben durch den Besuch zahlreicher Verehrer versüßt, darunter Maxime, der ihr schließlich einen Heiratsantrag macht.

Übersprudelndes Temperament

Die Uraufführung von Cloclo fand am 8. März 1924 in der Regie von Gustav Charlé am Wiener Bürgertheater statt. Franz Lehár übernahm die musikalische Leitung. Luise Kartousch als Cloclo wirbelte im Boston- und Shimmytakt über die Bühne, und Die Wiener Zeitung schrieb: „Man ist ja an das übersprudelnde Temperament dieser zierlichen, gelenkigen Dame gewöhnt. Als Cloclo zeigte Luise Kartousch wieder ihre erstaunliche Vielseitigkeit. Wie sie zuerst die mit Beinen und Armen durch die Luft fliegende Exzentriktänzerin mimt, im zweiten Akt sich dann in den unschuldsvollen Backfisch mit dem Strickstrumpf verwandelt, ist – in der Cloclo-Sprache ausgedrückt – einfach ‚zum Schießen’.“ Der Tenor Robert Nästlberger übernahm die Rolle des Maxime und „fesselte durch die Eleganz seiner Erscheinung und seines Gesangs“. Den Bürgermeister Severin gab der Wiener Charakterkomiker Ernst Tautenhayn mit „schelmisch unter der Nase hervorguckenden Komik“. Als seine Frau Melousine betrat Gisela Wehrbezirk die Bühne. Sie spielte die Mutter bereits 1914 in der Uraufführung der Schwank-Vorlage, und erweiterte die ihr bereits vertraute Rolle in der Operettenfassung durch Gesangseinlagen. Sie war „eine fast rührend anmutende komische Provinzmutter, die mit trockenen Tönen und drastischen Gebärden durch ihren Coupletvortrag verblüfft“.

Tanzmelodien

Wie die Darsteller fand auch die Musik von Lehár in der Wiener Zeitung viel Lob. „Sein einschmeichelnder Walzer geht in die Beine, sein Marschlied sagt auch dem, der es nicht wüsste, dass Lehár Militärkapellmeister gewesen ist; die Tanzmelodien haben wirklichen Musikgehalt. Dagegen wartet man vergeblich auf so genannte Schlager.“ Diese Schlager mit Ohrwurmcharakter besaß hingegen eine Operette von Emmerich Kálmán, die zwei Wochen zuvor im Theater an der Wien uraufgeführt worden war. Der Dreiakter Gräfin Mariza begeisterte die Theaterbesucher durch temperamentvolle ungarische Weisen und einschmeichelnde Walzerklänge. Gräfin Mariza wurde ein Jahr vor stets ausverkauftem Haus gespielt, während Cloclo nach nur fünf Monaten wieder abgesetzt wurde und damit weit hinter den Erwartungen zurück blieb, die Lehár in sein Werk gesetzt hatte.

Die Nacht gehört der Sünde

Schon im darauf folgenden Jahr nahm der Komponist eine Neufassung von Cloclo vor. Das betraf Umstellungen von musikalischen Nummern und Strichen in den Dialogen. In der Hauptrolle betrat bei der Premiere am 5. September 1925 nicht mehr Luise Kartousch, sondern Gisela Kolbe die Bühne des Johann-Strauß-Theaters. Für seine überarbeitete Fassung komponierte Franz Lehár ein neues Lied auf einen Text von Peter Herz. Dieser Foxtrott gipfelte in der Aufforderung: „Komm, die Nacht gehört der Sünde und lädt dich ein: Komm sei mein!“. Da war er – der von der Presse in der Erstfassung vermisste Schlager! Doch auch das nützte nichts mehr. Die Operette Cloclo war auch bei Aufführungen an anderen Theatern kein Erfolg.

Tränenreicher Abschied

Dazu trug auch die hauseigene Konkurrenz durch neue Lehár-Operetten bei. Der Komponist hatte inzwischen in dem Tenor Richard Tauber einen kongenialen Partner gefunden, für den er seine neuen Operetten komponierte. 1925 entstand für Tauber die bitter-süße Romanze Paganini, 1927 folgte Der Zarewitsch. Im Jahr 1929 unterzog Franz Lehár seine Operette Die gelbe Jacke einer Bearbeitung unter dem neuen Titel Das Land des Lächelns. Die Berliner Uraufführung war ein Triumph – und das von Richard Tauber gesungene Lied „Dein ist mein ganzes Herz“ wurde zum Evergreen der Operette. Ein wenig an diesem Erfolg teilhaben konnte auch Luise Kartousch. Bei den Aufführungen von Das Land des Lächelns in Wien sang sie an der Seite von Tauber die chinesische Prinzessin Mi. Nur von der Operette Cloclo wollte zu ihrem Kummer niemand mehr etwas wissen. Doch während das Liebespaar in Das Land des Lächelns tränenreich voneinander Abschied nimmt, wird im Finale von Cloclo geheiratet. Cloclo wirft sich ihrem zukünftigen Mann in die Arme und erfüllt damit den von Maxime bereits im ersten Akt geäußerten Wunsch: „Lass mich zu dir, in dein loderndes Liebesrevier!“