Samstag, 26. Dezember 2009


OH LA LA, PIZZA WUNDERBAR!

Venedig in Wien



Die Uraufführung der Operette Die Landstreicher von Carl Michael Ziehrer fand nicht in einem der bekannten Wiener Theater statt, sondern auf einer Sommerbühne im Wiener Prater. Dort eröffnete Gabor Steiner 1895 mit der Vergnügungsmeile Venedig in Wien den ersten Themenpark der Welt.

Holz, Stein und Gips

Der Theaterproduzent Gabor Steiner kam aus einer theaterbegeisterten Familie. Sein Vater Maximilian Steiner war Pächter des Theaters an der Wien. Unter seiner Direktion fand 1874 die Uraufführung der Fledermaus von Johann Strauß statt. Sohn Gabor, der seinen Vater zunächst als Kassenchef unterstützte, pachtete 1883 eine Operettenbühne in Hannover. 1892 kehrte er nach Wien zurück und wurde Direktor eines Theaters in der Wiener Rotunde, die 1873 als Zweckbau für Messeveranstaltungen errichtet worden war. 1894 hatte Gabor Steiner die Idee, auf dem ehemaligen Gelände der Wiener Weltausstellung aus Holz, Stein und Gips eine Fantasiewelt zu errichten, die er Venedig in Wien nannte.

Italienische Gesänge

Auf einer Gesamtfläche von mehr als 5000 qm wurden Teile der Lagunenstadt mitten im Prater nachgebaut. Dabei handelte es sich nicht um bemalte Kulissenleinwände, sondern um solide gebaute, tatsächlich betretbare Häuser. Berühmte Sehenswürdigkeiten und Paläste Venedigs wurden originalgetreu kopiert, darunter der Palazzo Vendramin, in dem Richard Wagner starb. Der Clou waren mit Wasser gefüllte Kanäle, auf denen nach der Eröffnung im Mai 1895 die Besucher in Booten durch die künstliche Lagunenstadt fahren konnten. Dafür hatte Gabor Steiner Gondeln in Venedig erworben und echte Gondolieri schmetterten beim Rudern stimmungsvolle italienische Canzone. In den venezianischen Palazzi waren Champagnerpavillons und Weinstuben eingerichtet. In kleinen Geschäften wurden den Damen Schmuck aus Neapel und Galanteriewaren aus Mailand offeriert. Für das leibliche Wohl sorgte die allererste Pizzeria auf österreichischem Boden und die Wiener lernten eine neue Delikatesse kennen: Die Pizza. Der Belag mit grünem Basilikum, weißem Mozarella und roten Tomaten entsprach den italienischen Nationalfarben, und die Köstlichkeit aus Italien schmeckte den österreichischen Gästen vorzüglich.

Retter der Lebensfreude

Der Vergnügungspark Venedig in Wien bot ein vielfältiges kulturelles Programm. Ein Höhepunkt war das erste Wiener Kino, das in einem nachgebauten Palazzo die Besucher anlockte. Gabor Steiner hatte in Paris einen Projektionsapparat gekauft und zeigte dem staunenden Publikum kurze Filme wie Die Ankunft einer Eisenbahn und Babys Frühstück. Der Erfolg der bewegten Bilder war sensationell! Auf einer Schönheitswahl wurde die Rosenkönigin gekürt, und für die musikalische Unterhaltung sorgten ein italienisches Opernsensemble und der Bologneser Mandolinenclub. Franz Lehár und Richard Heuberger dirigierten Konzerte mit Wiener Musik. Aufführungen von Operetten fanden in einem Theaterbau statt, dem so genannten Sommertheater, um den Wienern auch in der theaterfreien Zeit Aufführungen bieten zu können. Der Architekt Adolf Loos schrieb 1900 in seiner Zeitschrift Der Andere: „Gabor Steiner! Er allein rettet in den Sommermonaten den Ruf Wiens als Theaterstadt, als die Stadt der Musik, des Tanzes und der Lebensfreude.“

Eine Operettenuraufführung

Zu den szenischen Aufführungen im Sommertheater gehörte die Operette Die Landstreicher von Carl Michael Ziehrer. Der Komponist stand bei der Uraufführung am 29. Juli 1899 selbst am Pult. Die Regie übernahm Gabor Steiner persönlich; zu den Solisten gehörten junge Wiener Sänger, die froh waren, während der sommerlichen Wiener Theaterpause ein Engagement zu haben. Auf teure Stars, wie sie bei anderen Uraufführungen üblich waren, verzichtete Steiner aus finanziellen Gründen. Selbstverständlich waren bei der Uraufführung der Landstreicher auch Vertreter der Wiener Presse anwesend, doch der ungenannte Rezensent der Wiener Sonn- und Montags-Zeitung konnte seinen Lesern in der Ausgabe vom 31. Juli 1899 nur einen vagen Eindruck von der Premiere vermitteln: „Über die Aufführung können wir nur vom Hörensagen berichten. Ein böser Zufall hat es gewollt, dass wir hinter drei wunderschönen Damen mit ebenso wunderschönen, aber riesigen Hüten zu sitzen kamen, die uns – nämlich die Hüte – fast alle Aussicht verwehrten. Wir reckten unseren Kopf bald links, bald rechts – vergebens, die Hüte vor uns wogten gleich einem riesigen Ährenfeld hin und her, so dass wir schließlich den Kopf ermattet sinken ließen. Wir bitten ein anderes Mal um einen Sitz in der ersten Reihe, dass wir auch von den Wunderdingen, die es da oben zu sehen gibt, etwas abbekommen und auch mitjohlen können. Zum Glück konnten uns die Damenhüte nicht auch noch die Ohren verstopfen, so dass wir schöne Sachen zu hören bekamen.“ Auch der Kritiker der Wiener Zeitung lobte in seiner Besprechung vom 30. Juli 1899 die „heitere und liebenswürdige Komposition, flott, einschmeichelnd und melodiös“. 1905 wurde im Sommertheater mit Fesche Geister eine weitere Operette von Carl Michael Ziehrer uraufgeführt.

Gabor Steiners Vermächtnis

1901 wurden alle venezianischen Bauten abgetragen. Das Publikum flanierte stattdessen durch eine neu errichtete Internationale Stadt mit Gebäuden aus Holland, Spanien und Japan. Inzwischen hatte Steiner die Leitung des Wiener Theaters Danzers Orpheum übernommen, in dem er vor allem Berliner Operette spielte und Frau Luna von Paul Lincke zur österreichischen Erstaufführung annahm. Nach der Direktion von weiteren Wiener Theatern gründete Gabor Steiner einen Theaterverlag. 1938 musste er im Alter von 80 Jahren vor den Nationalsozialisten aus Wien flüchten. Steiner fand Aufnahme bei seinem Sohn, der in Hollywood zur ersten Garde der Tonfilmkomponisten gehörte: Max Steiner komponierte die Musik zu den Filmklassikern Vom Winde verweht und Casablanca. Drei Mal wurde der Sohn von Gabor Steiner mit dem Oscar für die beste Filmmusik ausgezeichnet. Der Lebensweg des im Jahr 1858 in Temeswar/Rumänien geborenen Theatermanns endete 1944 mit seinem Tod in Beverly Hills, wo Gabor Steiner auf dem Waldfriedhof begraben wurde.

Das Riesenrad

In Wien erinnert der Gabor-Steiner-Weg heute noch an ihn. Dieser Weg lenkt die Schritte der Wiener und ihrer vielen Besucher aus aller Welt zu Steiners im wahrsten Sinne des Wortes größtem Vermächtnis, das er der Stadt hinterlassen hat: Das Riesenrad im Wiener Prater. Steiner hatte ein derartiges Rad bei einem Besuch in London gesehen und ließ sich 1897 vom Magistrat der Stadt Wien die Konstruktionspläne englischer Architekten genehmigen. Der Bau der riesigen Stahlkonstruktion mit einer Höhe von mehr als 60 Metern war an sich schon eine Sensation. Nach nur acht Monaten war das Werk vollendet. Da das Riesenrad ein englisches Erzeugnis war, sollte bei der Eröffnung ein Bezug zu England hergestellt werden. Steiner wählte das 60-jährige Regierungsjubiläum von Königin Viktoria zum Anlass, um die Vollendung zu feiern. Lady Rumbold, die Gattin des englischen Botschafters, setzte zu den Klängen der englischen und österreichischen Nationalhymnen die letzten Schrauben ein. Am 25. Juni 1897 begann sich das Riesenrad unter dem Jubel des Publikums zu drehen. Die erste Fahrt machten Gabor Steiner und die beiden für den Bau verantwortlichen Ingenieure Bassett und Higgins allein. „Alles war entzückt, und es gab nicht zu bewältigende Stürme auf die Kassen“, berichtete Steiner nach der Jungfernfahrt – und die Donaumetropole besaß eine neue Sehenswürdigkeit, die heute gemeinsam mit dem Stephansdom und der Staatsoper zu den Wahrzeichen Wiens gehört.