Samstag, 26. Dezember 2009


Eduard Künneke DER VETTER AUS DINGSDA



Obwohl Eduard Künneke ein großes Oeuvre hinterlassen hat, darunter Opern, Musik zu Filmen, gehobene Unterhaltungsmusik für Orchester, Kunstlieder und mehr als dreißig Operetten, ging er vor allem mit einem Werk in die Musikgeschichte ein. Die damals wie heute beliebte Operette Der Vetter aus Dingsda wurde zu seinem größten Erfolg.

Onkel und Tante

Die Handlung spielt in Holland in der Nähe von Roermond im Jahr 1921. Julia de Weert und Roderich haben sich ewige Treue geschworen, als dieser nach Batavia aufbricht, um dort zu arbeiten. Einige Jahre später, nachdem sie vergeblich auf seine Rückkehr gewartet hat, wollen Julias Onkel und Vormund Josef und seine Gattin Wilhelmine sie mit ihrem schüchternen Neffen August verheiraten, um dadurch der Familie das große Vermögen ihres Mündels zu sichern. Als ein Fremder erscheint, den Julia für Roderich hält, und ihre Freundin Hannchen einen weiteren Fremden trifft, in dem diese den ihr unbekannten August zu erkennen glaubt, entwickelt sich ein munteres Verwechslungsspiel, in das sich Tante und Onkel tatkräftig einmischen, bis es am Schluss eine Doppelhochzeit gibt.

Geboren am Niederrhein

Der am 27. Januar 1885 in Emmerich am Niederrhein geborene Eduard Künneke studierte an der Berliner Musikhochschule für Komposition bei Max Bruch. Mit 22 Jahren erhielt er 1907 sein erstes Engagement als Chorleiter am Berliner Neuen Operettentheater und wechselte 1911 als Kapellmeister an das Deutsche Theater, wo er Musik von Robert Schumann für Goethes Schauspiel Faust in der Inszenierung von Max Reinhardt zusammenstellte und dirigierte. Während dieser Zeit wurden Künnekes Opern Robins Ende in Mannheim 1909 und Coeur-As in Dresden 1913 uraufgeführt ohne nennenswerte Erfolge erzielen zu können.

Eheglück

Nach einer kurzen Militärzeit als Hornist bei einem Infanterieregiment trat Künneke 1916 ein Engagement am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater an und teilte sich mit zwei anderen Dirigenten die musikalische Leitung der mehr als 1000 Aufführungen der rührseligen Operette Das Dreimäderlhaus, die Heinrich Berté nach Melodien von Franz Schubert zusammenstellte. Künneke lernte eine der Darstellerinnen kennen und heiratete die Sängerin Katarina Garden. Ihre gemeinsame Tochter war Evelyn Künneke, die als Schauspielerin und Schlagersängerin bekannt wurde.

Volkstümliche Operetten

Der Sensationserfolg des Dreimäderlhaus veranlasste Künneke, es ebenfalls mit einer volkstümlichen Operette zu versuchen. Das Dorf ohne Glocke wurde 1919 in Berlin uraufgeführt, und die Musik wurde von der Kritik gelobt. Dadurch wurde Hermann Haller auf das aufstrebende Talent aufmerksam. Haller hatte 1914 das Theater am Nollendorfplatz übernommen und dort mehrere Operetten von Rudolf Nelson und Walter Kollo zur Uraufführung gebracht. Haller verpflichtete Eduard Künneke als Hauskomponist und schrieb zusammen mit Fritz Oliven, der sich Rideamus nannte, die Libretti zu den in den Zwanzigerjahren viel gespielten Künneke-Operetten Der Vielgeliebte (1919) und Wenn Liebe erwacht (1920).

Harmlose Unterhaltung

Der Durchbruch zu einer der führenden Berliner Operettenkomponisten seiner Zeit gelang Künneke dann mit Der Vetter aus Dingsda. Im Gegensatz zu den vorausgegangenen Operetten spielte das neue Werk nicht mehr unter Adligen, sondern im großbürgerlichen Milieu, in dem ein sorgloses Leben geführt wurde, wovon die Theaterbesucher 1921 nur träumen konnten. Der Kaiser war abgedankt und in die Niederlande ins Exil geflüchtet, die Inflation rollte an und in Berlin kämpften politische Gruppierungen um die Vormachtstellung im Reichstag. Als Gegensatz zum wirklichen Leben in der kräftezehrenden Realität der frühen Weimarer Republik waren die Vorgänge um die vermögende Julia de Weert und ihre Familie deshalb harmlos und unterhaltsam gehalten. Für die Bühnen war der Aufwand mit einer Dekoration, einem kleinen Orchester und nur neun Solisten unter Verzicht auf Chor und Ballett verhältnismäßig gering, so dass Der Vetter aus Dingsda nach der Berliner Uraufführung am 15. April 1921 mit den Solisten Lori Leux (Julia), Gottfried Huppertz (Onkel Josef), Johannes Müller (ein Fremder), Eugen Rex (Roderich) und Ilse Marvenga (Hannchen) eine schnelle Verbreitung über die deutschen Bühnen fand und auch im Ausland ein außerordentlicher Erfolg war.

Der Vetter vom Broadway

In Wien wurde Der Vetter aus Dingsda bereits 1922 zum ersten Mal gespielt, und London zeigte ihn ein Jahr später unter dem englischen Titel The Cousin From Nowhere. Zwei Mal wurde Der Vetter aus Dingsda 1934 und 1954 verfilmt. Auch am Broadway wurde Künnekes Kassenschlager gespielt. 1923 wurde am Ambassador Theater in New York eine amerikanische Version 151 Mal aufgeführt, die in der dramaturgischen Struktur von der Originalvorlage abwich. In Amerika behielt man die Handlung zwar in ihren Grundzügen bei, aber die Liebesgeschichte wurde in den amerikanischen Bürgerkrieg verlegt, in den Roderich gezogen war. Der Broadway-Komponist Al Goodman steuerte einige musikalische Einlagen bei und die Produktion von Harry B. Smith verwandelte auf diese Weise den Vetter aus Dingsda unter dem neuen Titel Caroline in eine Art Vom Winde verweht für die Operettenbühne. Der große Erfolg des Vetter aus Dingsda wurde von Künnekes nachfolgenden Bühnenwerken Die Ehe im Kreise (1921) und Verliebte Leute (1922) nicht erreicht. Als Hermann Haller 1924 den Admiralspalast übernahm, um dort seine legendär gewordenen Revuen zu produzieren, nahm Künneke ein Angebot aus Amerika an. Für die Shubert-Brüder arbeitete er ab 1925 in New York als Arrangeur und Bearbeiter, konnte sich aber am Broadway mit seiner Operette Mayflowers nicht durchsetzen.

Der Tenor der Königin

Künneke kehrte 1926 nach Berlin zurück, ohne dort eine neue Anstellung als musikalischer Leiter zu finden. Um Geld zu verdienen arrangierte und instrumentierte er ungenannt die Chöre und Teile der Partitur der Revueoperette Das weiße Rößl. Und auch als Komponist eigener Werke musste Künneke sich nach der Uraufführung von Die hellblauen Schwestern in Berlin 1925 mit Theatern fern ab der pulsierenden Metropole Berlin begnügen: Lady Hamilton wurde in Breslau 1926, Die blonde Liselott am Landestheater Altenburg 1927 und Der Tenor der Königin in Prag 1930 uraufgeführt. Erst die Premiere der Umarbeitung von Die blonde Liselott zu Liselott 1932 am Berliner Admiralspalast mit Gustaf Gründgens und Hilde Hildebrand in den Hauptrollen bedeutete für Künneke die Rückkehr auf die Bühnen der Hauptstadt und auch die Operette Glückliche Reise wurde 1932 erstmals im Theater am Kurfürstendamm gespielt. Im Mittelpunkt der Uraufführung der romantische Operette Die lockende Flamme am Berliner Theater des Westens stand 1933 der Tenor Karl Jöken als Dichter und Komponist E. T. A. Hoffmann. Es war der letzte Höhepunkt in Künnekes künstlerischer Laufbahn, die durch die Kontrolle des deutschen Kulturlebens durch die Nationalsozialisten eine schmerzhafte Zäsur erlitt.

Shimmy und Paso-Doble

Künnekes Musik gab der Operette nach 1920 neue Impulse, die sich entweder nachromantisch-liedhaft geprägt wie in Die lockende Flamme und Der Tenor der Königin oder jazzbetont-frech wie in Glückliche Reise und Liselott bereits in seinem viel gespielten Frühwerk Der Vetter aus Dingsda ankündigten. Zu Beginn der Zwanzigerjahre galt die Operettenmusik der Goldenen Ära, die Johann Strauß, Carl Millöcker und Karl Zeller durch Walzer und Polkas belebt hatten, als musikalisch überholt. Die Komponisten der Silbernen Ära mit Franz Lehár, Leo Fall und Emmerich Kálmán als ihre bedeutendsten Vertreter wurden hellhörig, als die moderne Tanzmusik aus den Vereinigten Staaten auch in Deutschland beliebt wurde. Den Walzer behielten sie als ein wesentliches musikalisch-dramaturgisches Element der Operette bei, griffen aber ausgleichend auf Modetänze wie Onestep, Shimmy und Paso-Doble zurück.

Strahlender Mond

Auch Künneke verschloss sich zu Beginn der Zwanzigerjahre den neuartigen musikalischen Strömungen in Der Vetter aus Dingsda nicht. Das Duett „Kindchen, du musst nicht so schrecklich viel denken“ war ein Tango, das Ensemble „Sieben Jahre lebt ich in Batavia“ kam als Foxtrott daher und der „Strahlende Mond“ wurde im Gewand eines Valse Boston besungen. Dazu gesellten sich die volkstümliche Arie „Ich bin nur ein armer Wandergesell“ und das marschartige Duett „Onkel und Tante, ja das sind Verwandte, die man am liebsten nur von hinten sieht“. Diese gelungene Mischung aus kecken Jazzsynkopen und gefühlvollen Weisen hat Künneke in seinen anderen Werken nie mehr in dieser Konsequenz wie im Vetter aus Dingsda verfolgt. In seinen Werken der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre bevorzugte Künneke entweder einen opernhaft-melodramatischen Ton wie in Die lockende Flamme oder er schrieb mit Glückliche Reise eine tanzmusikbetonte Revueoperette.

Saxophon und Walzerklänge

Während Franz Lehár in seinen späten Operetten in der Dramaturgie des tragischen Finales und mit süßlicher Melodik wie in Paganini einen eigenen Weg ging, verfolgte Emmerich Kálmán dagegen das Rezept von Künneke zur Neubelebung der Operette im Nebeneinander von Saxophonklängen und Walzerträumen in seinem Erfolgsstück Die Bajadere. Auch Paul Abraham griff in Viktoria und ihr Husar und Blume von Hawaii im Wechsel von flotter Tanzmusik und gefühlsbetontem Schlager Künnekes musikalische Konzeption auf, ebenso Ralph Benatzky. Für seine Revue-Operetten Im weißen Rößl und Meine Schwester und ich kopierte er Künnekes musikalische Dramaturgie, in denen zudem wie in Künnekes Bühnenwerken Der Vetter aus Dingsda und Glückliche Reise Alltagspersonen auf die Bühne standen. In einer stilistisch neuartigen Mischung aus Zeitgeist, Operettenseligkeit, kabarettistischen Elementen und modernen Tanzrhythmen wurde eine Frühform des deutschsprachigen Musicals entwickelt, die durch das Jahr 1933 nicht weiter verfolgt werden konnte. Auch Eduard Künneke gehörte nun, obwohl er nicht aus Deutschland vertrieben wurde, zur Generation der um die Wende zum 20. Jahrhundert geborenen Operettenkomponisten, deren musikalische Entwicklung durch das Dritte Reich beeinträchtigt wurde, und die weder in der Heimat noch in der Fremde an ihre Erfolge aus den Zwanzigerjahren anschließen konnten.

Aufführungsverbot

Nach der Machtübernahme versuchte die nationalsozialistische Kulturpolitik durch zahlreiche neue Werke von Nico Dostal, Rudolf Kattnigg und Fred Raymond die Lücke im Operettenrepertoire zu schließen, die nach dem Verbot der jüdischen Komponisten wie Jacques Offenbach, Emmerich Kálmán, Leo Fall und Paul Abraham entstanden war. Eduard Künneke geriet in Schwierigkeiten, weil er sich von seiner halbjüdischen Frau Katarina nicht trennen wollte, und trotz seiner großen Erfolge in den Jahren der Weimarer Republik wurde er zunächst mit einem Aufführungsverbot belegt. Die Uraufführungen von Künnekes neuen Operetten waren vorerst nur im benachbarten Ausland möglich. Liebe ohne Grenzen wurde in Wien 1934 und Herz über Bord in Zürich 1935 erstmals gespielt. Der Boykott gegen Künneke endete durch eine Anweisung der Reichstheaterkammer vom 31. Mai 1935, dass dem Komponisten trotz der ‚nichtarischen‘ Gattin keine Schwierigkeiten mehr zu machen seien. Nach der Vertreibung der jüdischen Komponisten war die Produktion von neuen Operetten zurückgegangen, und das Reich wollte auf einen so populären und dem kulturpolitisch Ansehen zuträglichen Künstler nicht verzichten. Deshalb fand die nächste Berliner Künneke-Uraufführung am 31. Dezember 1935 in der Berliner Staatsoper mit den Opernstars Tiana Lemnitz und Helge Rosvaenge statt. Da sich Künneke aber weiterhin nicht von seiner Frau trennen wollte, wurde Die große Sünderin nach nur acht Aufführungen wieder abgesetzt. Goebbels, der den Komponisten wegen der ‚entartet-negroiden‘ Jazzelemente in seinen Operetten gerügt hatte, befahl die Komposition der Operette Hochzeit im Samarkand, die in Berlin am ehemaligen Großen Schauspielhaus 1938 uraufgeführt wurde, das sich jetzt Theater des Volkes nannte und von ‚Kraft durch Freude‘ betrieben wurde. Der 53-jährige Künneke komponierte lustlos eine Ausstattungsrevue mit folkloristisch geprägten Gesängen und Tänzen.

Schwungvolle Kompositionen

Danach musste er erleben, dass ihm in Deutschland Unterhaltungskomponisten aus der zweiten Reihe wie die von offizieller Seite geförderten Walter Wilhelm Goetze und Arno Vetterling den Rang abliefen, weniger kompositorisch als an der Anzahl der Aufführungen ihrer Werke und der Wahl der Uraufführungsorte gemessen. Dabei hatte Künneke für seine heute nicht mehr gespielte Operette Herz über Bord 1935 eine seiner schwungvollsten Kompositionen geschrieben. Blues, Jazz und Walzer waren in die melodisch und rhythmisch reizvolle Partitur eingebettet, aber nach der deutschen Erstaufführung in Düsseldorf fand das Werk, das einmal mehr Künnekes Kunst der farbenprächtigen Instrumentation bewies, keine Verbreitung auf den Bühnen. Künnekes folgende Operetten, die in ihrer Erfindungsgabe den früheren Bühnenwerken nicht nachstanden, wurden unverdient in der Provinz uraufgeführt: Zauberin Lola in Dortmund 1938, Der große Name in Düsseldorf 1938 und Traumland in Dresden 1941. Schließlich stand im Dritten Reich der Vetter aus Dingsda auf der Liste unerwünschter Operetten.

Rückzug ins Privatleben

Künneke zog sich nach Kriegsausbruch enttäuscht in sein Privatleben zurück, komponierte nur noch gelegentlich und beschäftigte sich mit Mathematik, Geschichte, Religionswissenschaft und Mythologie. Die Nachkriegszeit verbrachte Künneke in Halle, bevor er wieder nach Berlin zurückkehrte. Noch einmal gab es 1949 die Uraufführung einer neuen Operette. Das heitere Spiel Hochzeit mit Erika beschloss in Düsseldorf den Reigen seiner Bühnenwerke. Eduard Künneke starb in Berlin am 27. Oktober 1953.