Für ihren Zeitgenossen, den Politiker Francesco Guicciardini, ist ihr Name „mit großer Schande bedeckt“, nach Victor Hugo gehört sie einer „Familie von Teufeln“ an und der Historiker Ferdinand Gregorovius nennt sie in seiner 1874 erschienenen Biografie die „unseligste Frauengestalt der modernen Geschichte“: Lucrezia Borgia. In der Erinnerung der Nachwelt verkörperte sie eine faszinierende Mischung aus Verderbtheit und Glanz, sie wurde zum Inbegriff eines wüsten Lebens in den dramatischen Zeiten der Hochrenaissance: Als tückische Intrigantin und bösartige Giftmischerin sagte man ihr sogar ein Verhältnis mit ihrem Vater nach.
Wilde Gerüchte
Dieses durch Legenden entstandene Bild von Lucrezia Borgia haben Historiker inzwischen revidiert: Sie war keine Täterin, sondern ein Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse. Geboren wurde sie am
Betrunken – Tot!
Victor Hugos griff in seinem 1833 in französischer Sprache verfasstem Drama Lucrèce Borgia die zahlreich kursierenden Legenden um Lucrezia auf. Sein blutrünstiges Theaterstück feierte im 19. Jahrhundert europaweit Triumphe; in Deutschland wurde es in einer Übersetzung von Georg Büchner gespielt. Darin ist in den Überschriften der drei Akte, die in Büchners deutscher Übertragung „Handlung“ genannt werden, der Inhalt knapp zusammengefasst: „Erste Handlung – Schande über Schande, Zweite Handlung – Das Paar, Dritte Handlung – Betrunken - Tot“. Victor Hugo erzählt in seinem Schauspiel die Tragödie einer monströsen Frau im Stil der französischen Schauerromantik: Aus Rache für eine erlittene Schmach träufelt Lucrezia Gift in den Wein einer Festgesellschaft von jungen Leuten. Der Augenblick des Triumphes gerät zum Fiasko, denn der Preis, den sie für ihre Tat zahlen muss, ist hoch – Auch ihr Sohn Gennaro hat von dem vergifteten Wein getrunken.
Gefühle zum Erschauernlassen
Im Jahr der Uraufführung von Victor Hugos Drama unterschrieb Gaëtano Donizetti einen Vertrag mit der Mailänder Scala, der ihn zu zwei neuen Opern verpflichtete. Das Textbuch zur ersten Oper Lucrezia Borgia sollte Felice Romani schreiben. Der Komponist bat seinen Librettisten um besonders starke Szenen, „die Gefühle bis zum Erschauernlassen erregen würden.“ Donizetti faszinierte an Hugos Dramenvorlage, dass darin die Konstellation „Ehepaar und Liebhaber“ abwandelt wurde in eine für die damalige Zeit auf dem Theater unkonventionelle Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Gennaro und Lucrezia, dem sie sich als Mutter nicht zu erkennen gibt und für seine Liebhaberin gehalten wird. Felice Romani folgte in seinem Libretto nur in Grundzügen der Handlung von Hugos Schauspiel. Er löste sich in seinem Libretto von Hugos Renaissance-Prunkgemälde und arbeitete die Dramenvorlage für die Bedürfnisse der Opernbühne um, indem er sich auf die private Tragödie einer verkannten Mutter-Sohn-Beziehung konzentrierte. Die Gesellschaft der Adligen, die bei Hugo breiten Raum einnimmt, wurde zur singenden Statisterie degradiert und agiert – mit Ausnahme von Gennaros Freund Maffio Orsini – ohne eigenständige Charakterisierung, alle für den Gang der Handlung wesentlichen Episoden wies Felice Romani den Hauptfiguren zu. Dadurch ergab sich eine leichter fassbare und schlüssigere Führung des dramatischen Geschehens als bei Victor Hugo, dessen Schauspiel sich in vielen Nebenhandlungen verliert. In der Opernfassung wird Lucrezia als verzweifelte, in ihren Gefühlen verkannte Mutter gezeigt, der Herzog wird seiner öffentlichen Funktion fast vollständig beraubt und auf einen vermeintlich betrogenen Ehemann zurechtgestutzt – für die Logik der Opernbühne reichte diese Vereinfachung aus. Und während Victor Hugo seiner Titelheldin Lucrezia ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem Sohn unterstellt, deuten Donizettis und sein Librettist die Beziehung als tragisches Zusammentreffen zweier Menschen, von Gennaro, der seine Mutter idealisiert, obwohl er sie nicht kennt, und von Lucrezia, die nach eigener Aussage „jeder verabscheut“, und die durch die Begegnung mit Gennaro hofft, „in einem einzigen Herzen das Gefühl von Mitleid und Liebe zu erwecken“.
Bühnenwirksame Legende
Donizetti und sein Librettist vermieden es aber, aus Lucrezia ein Unschuldslamm zu machen; sie griffen wie Victor Hugo die bühnenwirksame Legende der bösen Giftmischerin auf, versuchten jedoch, ihr Verhalten plausibel erscheinen zu lassen: Wenn Lucrezia im letzten Akt den Wein vergiftet, wehrt sie sich dadurch gegen die ungeheueren Anschuldigungen, mit denen sie die Offiziere im Prolog der Oper konfrontierten und beleidigten. Der Giftmord ist die einzige Möglichkeit einer einsamen Frau, um sich vor den Verleumdungen der Männer zu schützen. Im Finale der Oper Lucrezia Borgia weichen Donizetti und Romani endgültig von Hugos Dramenvorlage ab. Bei Victor Hugo ersticht Gennaro seine Mutter mit einem Dolch, weil er sich von ihr getäuscht fühlt, da sie sich ihm zu spät als seine Mutter offenbart hat, bei Donizetti lässt Gennaro, nachdem er von Lucrezia erfahren hat, dass auch er ein Borgia sei, das verabreichte Gift wirken und stirbt, woraufhin die Titelheldin entseelt zusammenbricht. Lucrezia Borgias dramatischer Tod auf der Bühne – bei Hugo durch einen Dolchstoß, bei Donizetti durch einen „strafenden Pfeil von Himmel“, den sie sich erbittet – entsprach nicht der Wahrheit. Lucrezia starb am
Strahlende Primadonnentöne
In der Uraufführung von Lucrezia Borgia am Teatro alla Scala in Mailand am
Diskussionen
Nachdem die Sopranistin Henriette Méric-Lalande die fertig gestellte Partitur studiert hatte, forderte die gefeierte Bühnenkünstlerin im Finale der Oper nach dem Tod von Gennaro eine effektvolle Cabaletta zu singen, die in der Originalkomposition nicht enthalten war. Romani schloss sich Donizettis Opposition gegen die Idee der Primadonna an, bis es schließlich hieß „keine Cabaletta, keine Méric-Lalande“. Der Sängerin ging es dabei nicht nur um die brillante Prachtentfaltung ihrer Stimme, sie wusste auch, dass eine packende Cabaletta im Finale den Jubel des Publikums und damit den Erfolg des
Tiefgreifende Umarbeitungen
Das Publikum reagierte auf die Uraufführung enthusiastisch, die Presse verhalten: Kritisiert wurde der Mangel an melodischer Neuheit. 1840 war in Paris die französische Erstaufführung vorgesehen, die Übersetzung des von Felice Romani in italienischer Sprache geschriebenen Librettos nahm Etienne Monnier vor. Victor Hugo erhob daraufhin Einwände gegen die französische Fassung von Donizettis Oper, da er seine Urheberrechte verletzt sah. Dennoch wurde in Paris an der Premiere festgehalten. Victor Hugo klagte auf literarischen Diebstahl und erwirkte eine gerichtliche Verfügung, die eine weitere Verwendung seines Schauspiels als Grundlage eines Opernlibrettos untersagte. Um Donizettis Oper dennoch in Paris spielen zu können, ergab sich die Notwendigkeit, die literarische Quelle zu kaschieren und sowohl den Titel als auch die Verse des originalen Librettos von Felice Romani zu ändern, wobei die Handlung um einen verleumdeten Sohn im Spannungsfeld zwischen seiner Mutter und deren Ehemann beibehalten wurde. Der Schauplatz der Pariser Fassung von Lucrezia Borgia wurde von Ferrara nach Granada verlegt, die italienischen Renaissance-Figuren betraten als Türken die Bühne, und die Pariser Erstaufführung fand unter dem neuen Titel Nizza di Grenada statt. Auch bei den Vorstellungen von Donizettis Oper in Rom mussten 1841 Änderungen vorgenommen werden. Nach Auffassung der Zensur konnte im Zentrum des Papsttums eine Oper über Lucrezia Borgia, die uneheliche Tochter des späteren Papst Alexander VI., nicht geduldet werden. Die Vorstellungen durften erst nach tiefgreifenden Umarbeitungen des Librettos als Elisa da Fosco über die Bühne gehen. Doch gerade diese Aufführungen in Rom begründeten die Popularität von Donizettis Oper, die schließlich in ganz Europa gespielt wurde, und Franz Liszt dazu inspirierte, 1849 seine Réminiscences de Lucrezia Borgia, sur des motifs de l’opéra de Gaëtano Donizetti für Solo-Klavier zu komponieren.