Sonntag, 3. November 2019


Jacques Offenbach
FANTASIO





Jacques Offenbachs Werkkatalog sorgt immer wieder für Überraschungen. Zwischen der turbulenten Can-Can-Heiterkeit von »Orpheus in der Unterwelt« einerseits und der von tiefen Gefühlen durchzogenen Oper »Hoffmanns Erzählungen« andererseits existieren im Oeuvre des äußerst produktiven Kölner Kantorensohns und Wahlfranzosen so manche Zwischentöne. In seinem 1872 in Paris uraufgeführten Dreiakter »Fantasio« begegnet man einem Offenbach jenseits von Parodie und politisch-kultureller Satire, durch die er bekannt wurde. Auch musikalisch beschritt er darin andere Wege. Zwar gibt es in »Fantasio« auch einige burleske Szenen mit Verkleidungs- und Rollentauschsituationen. Dennoch ist das Werk keine typische opéra bouffe, wie man sie von ihm kennt, angereichert durch pikante Chansons und neckische Tanzcouplets. »Fantasio« ist musikalisch, aber auch hinsichtlich des Handlungsverlaufs, mit dem Genre der französischen opéra lyrique verwandt, in der zu Gunsten von Seelenkonflikten, in denen sich die Hauptfiguren befinden, eine äußerliche Operndramatik mit grellen Effekten in den Hintergrund gedrängt wird.

Liebesqualen

Die Handlung von »Fantasio« folgt einem 1834 entstandenen, gleichnamigen Schauspiel von Alfred de Musset, einer der größten Dichter der französischen Romantik. Eine bayerische Prinzessin und der ihr unbekannte Student Fantasio lernen sich auf ungewöhnliche Art und Weise kennen. Er steht unter ihrem Balkon, sie können sich nicht sehen und so verlieben sie sich singend nur über ihre Stimmen ineinander. Die Prinzessin darf ihr privates Glück aber nicht ausleben. Die Staatsraison fordert von ihr die Heirat mit dem Prinzen von Mantua. Fantasio gibt sich nun als Hofnarr aus, um seiner Angebeteten nahe sein zu können und die Zwangsehe zu verhindern.
Offenbachs Librettisten Paul de Musset, der Bruder von Alfred de Musset, und Charles Nuitter, der Archivar der Pariser Oper, folgten für ihre Transformation von Mussets Komödie in ein musikalisches Bühnenwerk weitgehend der von ihm entworfenen Handlung, die auch in der Vertonung in Bayern angesiedelt wird. In einem entscheidenden Punkt wichen sie aber davon ab. Mussets Schauspiel endet damit, dass Studenten jubelnd in einen Krieg ziehen. Jacques Offenbach, der Pazifist, sagt den Krieg ab und lässt Fantasio stattdessen eine flammende Antikriegsrede halten, in der er empfiehlt, dass sich doch die Staatsoberhäupter persönlich duellieren, aber nicht ihre Völker in den Krieg schicken.

Der Vaterlandsverräter

Jacques Offenbach war im Alter von 14 Jahren in Begleitung seines Vaters und seines vier Jahre älteren Bruders 1833 nach Paris gekommen, um am Konservatorium eine Ausbildung zu erhalten. 1855 eröffnete der von ihm komponierte Einakter »Die beiden Blinden« den Reigen seiner Bühnenwerke, die ihn in ganz Europa berühmt machten. 1860 nahm er die französische Staatsbürgerschaft an, ein Jahr später wurde er mit dem Band der Ehrenlegion dekoriert. Im Dezember 1869 hatte er als inzwischen hoch angesehener Komponist mit der Weltpremiere von »Die Banditen« wieder einmal einen durchschlagenden Erfolg erzielt, doch die Vorkommnisse rund um »Fantasio« stürzten ihn in tiefe persönliche Krise.
Im Juli 1870, er war mitten in den musikalischen und szenischen Proben zur Uraufführung von »Fantasio« an der Pariser Opéra-Comique, brach der Deutsch-Französische Krieg aus. Offenbach, obwohl er sich beiden Völkern verbunden fühlte, sah sich als französischer Staatsbürger mit deutscher Herkunft zunehmend Feindseligkeiten ausgesetzt. Die Deutschen betrachteten den Kölner, der seit 37 Jahren in Paris sein Zuhause hatte, als Vaterlandsverräter. Die Franzosen wiederum unterstellten dem nunmehr 51-Jährigen Komponisten sogar, ein preußischer Spion zu sein. Doch damit nicht genug. Einige französische Pressevertreter verstiegen sich sogar zu der Ansicht, seine Operetten hätten zur Verweichlichung des Second Empire beigetragen, dadurch die Soldaten der französischen Armee kampfuntauglich gemacht und deshalb wäre Jacques Offenbach und seine Musik für ihre Rückzuggefechte und Niederlagen im Deutsch-Französischen Krieg verantwortlich. Das hatte Folgen. Die Uraufführung von »Fantasio« fand gar nicht erst statt und wurde von der Theaterdirektion abgesagt. Offenbach zog sich eine Zeitlang in sein Privatleben zurück und stellte das Komponieren fast gänzlich ein.

Flop auch in Wien

Als die Waffen ruhten und die Schmähungen auf seine Person nachließen, setzte er die Proben zu »Fantasio« fort. Da in den Wirren des Deutsch-Französischen Kriegs der ursprünglich für die Partie des Fantasio vorgesehene Tenor und Publikumsliebling Victor Capoul verlustig gegangen war, weil er sich mittlerweile in England aufhielt und nicht mehr nach Paris zurückkehren wollte, musste Offenbach umdisponieren. Also schrieb er die Titelpartie für die aufstrebende Mezzosopranistin Célestine Galli-Marié um, die damit in der Uraufführungsserie von »Fantasio« außerordentlich gut gefiel. Drei Jahre später stand sie in der Pariser Opéra-Comique als erste Carmen in Georges Bizets gleichnamiger Oper auf der Bühne.
Die Pariser Uraufführung am 18. Januar 1872 brachte es auf nur zehn Vorstellungen. Der Kritiker Gustave Bertrand schob damals die Schuld am Misserfolg auf die pazifistische Schlussansprache des Titelhelden. So etwas wollten die auf Revanche sinnenden Franzosen nicht hören – und schon gar nicht von einem Komponisten mit deutschen Wurzeln und ausgerechnet auch noch in einem Bühnenwerk, das in Deutschland spielte. Für das, was Offenbach in seinem »Fantasio« formuliert hatte, Friedenssehnsucht und ein drängendes Aufbegehren gegen hierarchische Ordnung, war zu dieser Zeit nicht nur in Frankreich kein Platz. Auch die Inszenierung in Wien, wo Offenbach im Februar 1872 eine deutschsprachige Fassung herausbrachte, erwies sich mit nur 27 Vorstellungen als Flop. Im Herbst 1872 folgten noch drei Inszenierungen in Graz, Prag und Berlin – dann war Schluss. Kein weiteres Theater setzte »Fantasio« auf den Spielplan.

Züngelnde Flammen

Das Werk geriet in Vergessenheit und galt schließlich als verschollen, denn 1887 wurde das komplette Orchestermaterial beim Brand der Opéra-Comique vernichtet. Auch vom Theaterbau bleiben nur verkohlte Mauern übrig. Offenbachs handschriftliche Partitur, die bis 1937 von seiner Tochter Jacqueline aufbewahrt wurde, ging nach ihrem Tod an die Erben. Sie rissen die Seiten auseinander und versilberten sie blattweise auf dem Autografenmarkt. Glücklicherweise entdeckte der Musikwissenschaftler Jean-Christophe Keck, der 2010 mit der Rekonstruktion von Offenbachs verschollenem Bühnenwerk beauftragt wurde, etliche Notenfragmente sowohl in Archiven in London und an der Yale University als auch im Privatbesitz einer weiteren Nachfahrin Offenbachs. Hilfreich war auch der Klavierauszug der Uraufführungsfassung, der 1872 beim Verlag Choudens gedruckt worden war, und schließlich förderte Keck auch die Wiener Version mit einem kompletten Orchestersatz im Archiv von Oenbachs Berliner Verlag Bote & Bock zutage. Die Sprechszenen der rekonstruierten Fassung stellte er nach dem damaligen Zensur-Libretto und den Dialogen der Komödie von Musset zusammen.

Wie neu geboren

Keck gelang es, die Partitur zu neuem Leben zu erwecken. Seine auf einem ausführlichen Quellenstudium basierende rekonstruierte Fassung erklang erstmals im Dezember 2013 in einer konzertanten Aufführung mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment unter dem Dirigat von Sir Mark Elder in London. Das Ergebnis verblüffte: Die Musik zu »Fantasio« hat nur wenig mit dem zu tun, was Offenbach zuvor geschrieben hatte. Für seine Instrumentierung griff der Komponist auf eine große romantische Orchesterbesetzung mit vier Hörnern, doppelter Holzbläserbesetzung und drei Posaunen zurück, was sich sehr von dem unterschied, was er für die meisten seiner übrigen Werke verwendet hat, die eine eher reduzierte Orchesterbegleitung boten. Es gibt in den einzelnen Akten von »Fantasio« zwar blechlastige Zwischenmusiken, Offenbach lässt die bayerische Hofgesellschaft sogar Boléro tanzen und zitiert auch den Bayerischen Defiliermarsch. Aber »Fantasio« ist keine parodistische Offenbachiade. Die vornehmlich lyrisch-romantische Partitur gehört zu seinen Opernversuchen, so wie bereits die 1864 erstmals gespielten »Rheinnixen«.

Tiefe Gefühle

Schon zu Lebzeiten des Komponisten war sensiblen Kritikern und Zuhörern seine verletzliche und melancholische Seite aufgefallen. Sie findet sich beim Tod der Eurydike in »Orpheus in der Unterwelt« oder beim Couplet der Gräfin in »Pariser Leben« in nahezu allen seinen Werken, selbst den überdrehtesten. Dass Offenbach und seine Librettisten den sarkastischen Witz diesmal weniger bedienten, hatte auch mit dem Ort der Uraufführung zu tun. »Fantasio« war ein Auftragswerk für die Pariser Opéra-Comique. Deshalb musste der Komponist sein neues Werk an die Konventionen dieses Theaters, das heißt an die Erwartungen des Publikums anpassen, da das wohlhabende Bürgertum dieses Pariser Theater als Höhere-Töchter-Bühne benutzte. Hier wurden die heiratsfähigen Damen zwecks Anbahnung guter Partien zur diskreten Begutachtung präsentiert. Somit verboten sich schlüpfrige Witze auf der Bühne und brüllendes Gelächter im Publikum von vornherein, um die zukünftigen Bräute nicht zu verschrecken. Es durfte bei den Aufführungen nicht zu tragisch, aber auch nicht zu komisch zugehen, sondern eher empfindsam und berührend. Diese Vorgaben erfüllte »Fantasio« mit einem Liebespaar, das im Mondlicht die Liebe besingt.

Lyrische Klänge
  
Das Rückgrat der Partitur zu »Fantasio« bilden drei Liebesduette zwischen dem Titelhelden und Prinzessin Elsbeth, je eines in jedem Akt. Das erste Duett enthält eines der wichtigsten Leitmotive des Werks, den Liebesliedwalzer „Quel murmure charmant“. Er zieht sich von der Ouvertüre bis zum Finale durch das ganze Stück und erscheint immer dort, wo die Liebe bewusst oder unbewusst zur bestimmenden Macht wird. Das zweite strukturbestimmende Thema ist ein vom Chor im ersten Akt angestimmtes marschähnliches Narrenmotiv, mit dem im dritten Finale schließlich die Narrenrepublik ausgerufen wird. Der melodischen Motivstruktur entspricht eine klare Klangfarbensymbolik. Den Liebenden ist neben dem Streicher-Tutti die Flöte in warmen Farbbereichen zugeordnet. Bestimmend für die Buo-Figuren ist die näselnde Oboe. Auch plustern sich die Herrschenden gerne unter orchestraler Begleitung von Klarinette und Fagott auf. Dennoch überwiegen in der Musik zu »Fantasio« die leisen und behutsamen Töne. Ein Beispiel hierfür ist Fantasios Lied an den Mond im ersten Akt. Nicht nur dort ist die Musik auf einen lyrischen Grundton abgestimmt. Dennoch war der Komponist derselbe wie beispielsweise in »Die schöne Helena«. Auf musikalisch zündende Aktschlüsse wollte Offenbach keinesfalls verzichten. Alle drei Finali münden in Ensembleszenen, die mit großen musikalischen Bögen versehen sind.
Mit der 1873 erstmals gespielten Operette »Pomme d’Api«, die auf das Fantasio-Debakel folgte, versöhnte sich das französische Publikum wieder mit ihm – und der Komponist mit seinen Zuhörern. Viel Zeit blieb ihm danach nicht mehr. 1880 verstarb er. Seine Operette »Belle Lurette« konnte er nicht mehr vollenden. Das blieb Léo Delibes vorbehalten. Ernest Guiraud widmete sich hingegen der Fertigstellung einer aufführungsfähigen Partitur von Offenbachs Oper »Hoffmanns Erzählungen«, in der sich Spuren von »Fantasio« wiederfinden. Nicht nur der Studentenchor aus dem ersten Akt wurde vom Offenbach hierfür vollständig übernommen. Auch das musikalische Motiv von Antonias Mutterstimme „Leise tönt meiner Stimme Klang“ im dritten Akt von »Hoffmanns Erzählungen« stammt aus der Ouvertüre zu »Fantasio«.