Jacques
Offenbach
FANTASIO
Jacques
Offenbachs Werkkatalog sorgt immer wieder für Überraschungen. Zwischen der turbulenten
Can-Can-Heiterkeit von »Orpheus in der Unterwelt« einerseits und der von tiefen
Gefühlen durchzogenen Oper »Hoffmanns Erzählungen« andererseits existieren im
Oeuvre des äußerst produktiven Kölner Kantorensohns und Wahlfranzosen so manche
Zwischentöne. In seinem 1872 in Paris uraufgeführten Dreiakter »Fantasio«
begegnet man einem Offenbach jenseits von Parodie und politisch-kultureller
Satire, durch die er bekannt wurde. Auch musikalisch beschritt er darin andere
Wege. Zwar gibt es in »Fantasio« auch einige burleske Szenen mit Verkleidungs-
und Rollentauschsituationen. Dennoch ist das Werk keine typische opéra bouffe, wie man sie von ihm kennt,
angereichert durch pikante Chansons und neckische Tanzcouplets. »Fantasio« ist musikalisch,
aber auch hinsichtlich des Handlungsverlaufs, mit dem Genre der französischen opéra lyrique verwandt, in der zu
Gunsten von Seelenkonflikten, in denen sich die Hauptfiguren befinden, eine
äußerliche Operndramatik mit grellen Effekten in den Hintergrund gedrängt wird.
Liebesqualen
Die Handlung von
»Fantasio« folgt einem 1834 entstandenen, gleichnamigen Schauspiel von Alfred
de Musset, einer der größten Dichter
der französischen Romantik. Eine bayerische Prinzessin und der ihr unbekannte
Student Fantasio lernen sich auf ungewöhnliche Art und Weise kennen. Er steht unter
ihrem Balkon, sie können sich nicht sehen und so verlieben sie sich singend nur
über ihre Stimmen ineinander. Die Prinzessin darf ihr privates Glück aber nicht ausleben. Die Staatsraison fordert von ihr die Heirat mit
dem Prinzen von Mantua. Fantasio gibt sich nun als Hofnarr aus, um seiner
Angebeteten nahe sein zu können und die Zwangsehe zu verhindern.
Offenbachs
Librettisten Paul de Musset, der Bruder von Alfred de Musset, und Charles
Nuitter, der Archivar der Pariser Oper, folgten für ihre Transformation von
Mussets Komödie in ein musikalisches Bühnenwerk weitgehend der von ihm
entworfenen Handlung, die auch in der Vertonung in Bayern angesiedelt wird. In
einem entscheidenden Punkt wichen sie aber davon ab. Mussets Schauspiel endet
damit, dass Studenten jubelnd in einen Krieg ziehen. Jacques Offenbach, der
Pazifist, sagt den Krieg ab und lässt Fantasio stattdessen eine flammende
Antikriegsrede halten, in der er empfiehlt, dass sich doch die
Staatsoberhäupter persönlich duellieren, aber nicht ihre Völker in den Krieg
schicken.
Der
Vaterlandsverräter
Jacques
Offenbach war im Alter von 14 Jahren in Begleitung seines Vaters und seines
vier Jahre älteren Bruders 1833 nach Paris gekommen, um am Konservatorium eine
Ausbildung zu erhalten. 1855 eröffnete der von ihm komponierte Einakter »Die
beiden Blinden« den Reigen seiner Bühnenwerke, die ihn in ganz Europa berühmt
machten. 1860 nahm er die französische Staatsbürgerschaft an, ein Jahr später wurde
er mit dem Band der Ehrenlegion dekoriert. Im Dezember 1869 hatte er als inzwischen
hoch angesehener Komponist mit der Weltpremiere von »Die Banditen« wieder
einmal einen durchschlagenden Erfolg erzielt, doch die Vorkommnisse rund um »Fantasio«
stürzten ihn in tiefe persönliche Krise.
Im Juli 1870, er
war mitten in den musikalischen und szenischen Proben zur Uraufführung von »Fantasio«
an der Pariser Opéra-Comique, brach der Deutsch-Französische Krieg aus. Offenbach,
obwohl er sich beiden Völkern verbunden fühlte, sah sich als französischer
Staatsbürger mit deutscher Herkunft zunehmend Feindseligkeiten ausgesetzt. Die
Deutschen betrachteten den Kölner, der seit 37 Jahren in Paris sein Zuhause
hatte, als Vaterlandsverräter. Die Franzosen wiederum unterstellten dem nunmehr
51-Jährigen Komponisten sogar, ein preußischer Spion zu sein. Doch damit nicht
genug. Einige französische Pressevertreter verstiegen sich sogar zu der
Ansicht, seine Operetten hätten zur Verweichlichung des Second Empire
beigetragen, dadurch die Soldaten der französischen Armee kampfuntauglich gemacht
und deshalb wäre Jacques Offenbach und seine Musik für ihre Rückzuggefechte und
Niederlagen im Deutsch-Französischen Krieg verantwortlich. Das hatte Folgen. Die
Uraufführung von »Fantasio« fand gar nicht erst statt und wurde von der
Theaterdirektion abgesagt. Offenbach zog sich eine Zeitlang in sein Privatleben
zurück und stellte das Komponieren fast gänzlich ein.
Flop auch in Wien
Als die Waffen
ruhten und die Schmähungen auf seine Person nachließen, setzte er die Proben zu
»Fantasio« fort. Da in den Wirren des Deutsch-Französischen Kriegs der ursprünglich
für die Partie des Fantasio vorgesehene Tenor und Publikumsliebling Victor
Capoul verlustig gegangen war, weil er sich mittlerweile in England aufhielt und
nicht mehr nach Paris zurückkehren wollte, musste Offenbach umdisponieren. Also
schrieb er die Titelpartie für die aufstrebende Mezzosopranistin Célestine
Galli-Marié um, die damit in der Uraufführungsserie von »Fantasio« außerordentlich
gut gefiel. Drei Jahre später stand sie in der Pariser Opéra-Comique als erste
Carmen in Georges Bizets gleichnamiger Oper auf der Bühne.
Die Pariser Uraufführung
am 18. Januar 1872 brachte es auf nur zehn Vorstellungen. Der Kritiker Gustave
Bertrand schob damals die Schuld am Misserfolg auf die pazifistische
Schlussansprache des Titelhelden. So etwas wollten die auf Revanche sinnenden Franzosen
nicht hören – und schon gar nicht von einem Komponisten mit deutschen Wurzeln
und ausgerechnet auch noch in einem Bühnenwerk, das in Deutschland spielte. Für
das, was Offenbach in seinem »Fantasio« formuliert hatte, Friedenssehnsucht und
ein drängendes Aufbegehren gegen hierarchische Ordnung, war zu dieser Zeit nicht
nur in Frankreich kein Platz. Auch die Inszenierung in Wien, wo Offenbach im Februar
1872 eine deutschsprachige Fassung herausbrachte, erwies sich mit nur 27
Vorstellungen als Flop. Im Herbst 1872 folgten noch drei Inszenierungen in
Graz, Prag und Berlin – dann war Schluss. Kein weiteres Theater setzte »Fantasio«
auf den Spielplan.
Züngelnde
Flammen
Das Werk geriet
in Vergessenheit und galt schließlich als verschollen, denn 1887 wurde das
komplette Orchestermaterial beim Brand der Opéra-Comique vernichtet. Auch vom
Theaterbau bleiben nur verkohlte Mauern übrig. Offenbachs handschriftliche
Partitur, die bis 1937 von seiner Tochter Jacqueline aufbewahrt wurde, ging
nach ihrem Tod an die Erben. Sie rissen die Seiten auseinander und versilberten
sie blattweise auf dem Autografenmarkt. Glücklicherweise entdeckte der
Musikwissenschaftler Jean-Christophe Keck, der 2010 mit der Rekonstruktion von
Offenbachs verschollenem Bühnenwerk beauftragt wurde, etliche Notenfragmente
sowohl in Archiven in London und an der Yale University als auch im
Privatbesitz einer weiteren Nachfahrin Offenbachs. Hilfreich war auch der Klavierauszug
der Uraufführungsfassung, der 1872 beim Verlag Choudens gedruckt worden war,
und schließlich förderte Keck auch die Wiener Version mit einem kompletten
Orchestersatz im Archiv von Offenbachs Berliner Verlag Bote &
Bock zutage. Die Sprechszenen der rekonstruierten Fassung stellte er nach dem damaligen
Zensur-Libretto und den Dialogen der Komödie von Musset zusammen.
Wie neu geboren
Keck gelang es, die
Partitur zu neuem Leben zu erwecken. Seine auf einem ausführlichen
Quellenstudium basierende rekonstruierte Fassung erklang erstmals im Dezember 2013
in einer konzertanten Aufführung mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment unter
dem Dirigat von Sir Mark Elder in London. Das Ergebnis verblüffte: Die Musik zu
»Fantasio« hat nur wenig mit dem zu tun, was Offenbach zuvor geschrieben hatte.
Für seine Instrumentierung griff der Komponist auf eine große romantische
Orchesterbesetzung mit vier Hörnern, doppelter Holzbläserbesetzung und drei
Posaunen zurück, was sich sehr von dem unterschied, was er für die meisten
seiner übrigen Werke verwendet hat, die eine eher reduzierte
Orchesterbegleitung boten. Es gibt in den einzelnen Akten von »Fantasio« zwar blechlastige
Zwischenmusiken, Offenbach lässt die bayerische Hofgesellschaft sogar Boléro
tanzen und zitiert auch den Bayerischen Defiliermarsch. Aber »Fantasio« ist
keine parodistische Offenbachiade. Die vornehmlich lyrisch-romantische Partitur
gehört zu seinen Opernversuchen, so wie bereits die 1864 erstmals gespielten »Rheinnixen«.
Tiefe Gefühle
Schon zu
Lebzeiten des Komponisten war sensiblen Kritikern und Zuhörern seine
verletzliche und melancholische Seite aufgefallen. Sie findet sich beim Tod der
Eurydike in »Orpheus in der Unterwelt« oder beim Couplet der Gräfin in »Pariser
Leben« in nahezu allen seinen Werken, selbst den überdrehtesten. Dass Offenbach
und seine Librettisten den sarkastischen Witz diesmal weniger bedienten, hatte auch
mit dem Ort der Uraufführung zu tun. »Fantasio« war ein Auftragswerk für die
Pariser Opéra-Comique. Deshalb musste der Komponist sein neues Werk an die
Konventionen dieses Theaters, das heißt an die Erwartungen des Publikums
anpassen, da das wohlhabende Bürgertum dieses Pariser Theater als
Höhere-Töchter-Bühne benutzte. Hier wurden die heiratsfähigen Damen zwecks
Anbahnung guter Partien zur diskreten Begutachtung präsentiert. Somit verboten
sich schlüpfrige Witze auf der Bühne und brüllendes Gelächter im Publikum von
vornherein, um die zukünftigen Bräute nicht zu verschrecken. Es durfte bei den
Aufführungen nicht zu tragisch, aber auch nicht zu komisch zugehen, sondern
eher empfindsam und berührend. Diese Vorgaben erfüllte »Fantasio« mit einem
Liebespaar, das im Mondlicht die Liebe besingt.
Lyrische Klänge
Das Rückgrat der
Partitur zu »Fantasio« bilden drei Liebesduette zwischen dem Titelhelden und
Prinzessin Elsbeth, je eines in jedem Akt. Das erste Duett enthält eines der wichtigsten
Leitmotive des Werks, den Liebesliedwalzer „Quel murmure charmant“. Er zieht
sich von der Ouvertüre bis zum Finale durch das ganze Stück und erscheint immer
dort, wo die Liebe bewusst oder unbewusst zur bestimmenden Macht wird. Das
zweite strukturbestimmende Thema ist ein vom Chor im ersten Akt angestimmtes marschähnliches
Narrenmotiv, mit dem im dritten Finale schließlich die Narrenrepublik
ausgerufen wird. Der melodischen Motivstruktur entspricht eine klare Klangfarbensymbolik.
Den Liebenden ist neben dem Streicher-Tutti die Flöte in warmen Farbbereichen
zugeordnet. Bestimmend für die Buffo-Figuren ist die näselnde Oboe. Auch
plustern sich die Herrschenden gerne unter orchestraler Begleitung von
Klarinette und Fagott auf. Dennoch überwiegen in der Musik zu »Fantasio« die
leisen und behutsamen Töne. Ein Beispiel hierfür ist Fantasios Lied an den Mond
im ersten Akt. Nicht nur dort ist die Musik auf einen lyrischen Grundton
abgestimmt. Dennoch war der Komponist derselbe wie beispielsweise in »Die
schöne Helena«. Auf musikalisch zündende Aktschlüsse wollte Offenbach keinesfalls
verzichten. Alle drei Finali münden in Ensembleszenen, die mit großen musikalischen
Bögen versehen sind.
Mit der 1873 erstmals
gespielten Operette »Pomme d’Api«, die auf das Fantasio-Debakel folgte, versöhnte
sich das französische Publikum wieder mit ihm – und der Komponist mit seinen
Zuhörern. Viel Zeit blieb ihm danach nicht mehr. 1880 verstarb er. Seine Operette
»Belle Lurette« konnte er nicht mehr vollenden. Das blieb Léo Delibes vorbehalten.
Ernest Guiraud widmete sich hingegen der Fertigstellung einer
aufführungsfähigen Partitur von Offenbachs Oper »Hoffmanns Erzählungen«, in der
sich Spuren von »Fantasio« wiederfinden. Nicht nur der Studentenchor aus dem
ersten Akt wurde vom Offenbach hierfür vollständig übernommen. Auch das
musikalische Motiv von Antonias Mutterstimme „Leise tönt meiner Stimme Klang“ im
dritten Akt von »Hoffmanns Erzählungen« stammt aus der Ouvertüre zu »Fantasio«.