Johann Strauß
DER CARNEVAL IN ROM
„Auf der Musikertribüne befanden sich tausende
Sänger und Orchestermitglieder, und die sollte ich dirigieren“, schrieb Johann
Strauß in einem Brief von einer Tournee durch Amerika, die ihn im Sommer 1872 auch
nach Boston führte, an die in Wien zurückgebliebenen Freunde. „Zur Bewältigung
der Riesenmassen waren mir hundert Subdirigenten beigegeben, allein ich konnte
nur die Allernächsten erkennen, und trotz der Proben war an eine Kunstleistung
nicht zu denken. Plötzlich krachte ein Kanonenschuss, eine zarter Wink für uns
Zwanzigtausend, dass man mit dem Konzert beginnen müsste. Ich gebe das Zeichen
zur schönen blauen Donau, meine Subdirigenten folgen mir rasch und so gut sie
können, und nun geht ein Heidenspektakel los, das ich mein Lebtag nicht
vergessen werde. Da wir so ziemlich zur gleichen Zeit angefangen hatten, war
meine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass wir auch zur gleichen Zeit
aufhörten.“
Vom Dirigierpult ans Klavier
Der Erfolg der 16 Konzerte in
Boston im Umfeld eines Weltfriedensfestes war ebenso groß wie in New York, wo
Strauß drei weitere Konzertabende dirigierte. Die Einladung war durch einen
amerikanischen Agenten erfolgt. Obwohl der Komponist die lange und
beschwerliche zweiwöchige Seereise von Bremerhaven nach New York fürchtete,
überwand er seine Aversion. Der damals gigantischen Summe von 25.000 Dollar als
Honorar konnte er nicht widerstehen. Nachdem Johann Strauß nach Wien
zurückgekehrt war, machte er sich wieder an die Arbeit. Vor ihm lag das Libretto
zu seiner zweiten Operette Der Carneval
in Rom. Obwohl er bereits viele erfolgreiche Orchesterwerke wie Walzer,
Polkas und Märsche geschrieben hatte, die seinen Ruhm bis nach Amerika trugen, war
Strauß erst nach langem Zögern dem Rat seiner ersten Ehefrau Jetty gefolgt,
auch Operetten zu komponieren. Er befürchtete, den Anforderungen des Theaters
nicht gerecht zu werden, das zudem zu dieser Zeit Jacques Offenbach mit seinen
Bühnenwerken wie Orpheus in der Unterwelt souverän beherrschte. So schlug im
Jahr 1868 der erste Versuch von Johann Strauß, ein Bühnenwerk mit seiner Musik
zu versehen, dann auch fehl. Die Operette Die
lustigen Weiber von Wien nach einer Librettovorlage von Josef Braun blieb
unvollendet. Johann Strauß war mit der Verzahnung von Text und Musik schlichtweg
überfordert.
Ein Platzregen von Textbüchern
Deshalb nahm er bei der
Niederschrift der Partitur zur Operette Indigo und die vierzig Räuber die Hilfe
des erfahrenen Kapellmeisters und Komponisten Richard Genée in Anspruch, das
Libretto hatte Maximilian Steiner, der Direktor des Theaters an der Wien,
verfasst. Wenn sich auch bei der Uraufführung 1871 am Theater an der Wien Lob
und Kritik die Waage hielten, hatte der als Walzerkönig titulierte Komponist immerhin
bewiesen, dass er fähig war, für die Bühne zu schreiben, und daran wollten
andere teilhaben. „So ergoss sich über mich nach der Indigo-Premiere ein
Platzregen von Textbüchern“, schrieb er in einem Brief an Richard Genée. Dennoch
fand Strauß trotz der Fülle an Vorlagen für seine neue Operette kein geeignetes
Libretto. Maximilian Steiner machte den Komponisten dann auf einen Textentwurf
von Josef Braun aufmerksam, den dieser nach einer Vorlage von Victorien Sardou verfasst
hatte: Piccolino. Die 1869 in Paris
uraufgeführte Opéra bouffe hatte die französischen Komponistin Marie Félicie
Clémence de Reiset, Vicomtesse de Grandval, mit Musik versehen. Der französische
Dichter Victorien Sardou, dessen Drama La
Tosca drei Jahrzehnte später durch Giacomo Puccinis Vertonung zum Triumph
auf der Opernbühne wurde, fungierte wiederholt als Pate für musikalische
Bühnenwerke, in diesem Fall war es eine Wiener Operette. Zu dieser Zeit war es nicht
ungewöhnlich, französische Stoffe in deutschsprachige Stücke umzuwandeln, auch Die
Fledermaus, die Strauß 1874 komponierte, basierte auf dem Lustspiel Le Réveillon des französischen
Autorenduos Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Der literarische Vorsprung der
Franzosen vor allem auf dem Gebiet der satirischen, oft auch politisch
hintergründigen Komödie war unbestreitbar. Den Bühnenwerken der französischen
Schriftsteller wie Molière, Sardou, Halévy und Meilhac konnte im deutschen
Sprachraum kaum etwas entgegengesetzt werden. Das erkannte nach der
Uraufführung von Der Carneval in Rom auch
der Rezensent der Neuen Presse: „Das Libretto ist, weil es eben Sardou
entnommen, viel besser als die trostlosen Verbrechen gegen den Verstand, die
man in letzter Zeit zu vernehmen gezwungen war. Es ist stellenweise zwar frivol,
leichtfertig und unlogisch, selten aber roh und blödsinnig.“
Eingriffe und Umstellungen
Da die Wiener Operettenbühnen, so
auch das Theater an der Wien, privat geführte Unternehmen waren, und alle
Beteiligten – Theaterdirektoren, Komponisten und Librettisten – mit den
Aufführungen Geld verdienen wollten, hatte man in diesen und in anderen Fällen eine
enge Zusammenarbeit vereinbart, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Die
Produktion einer Operette war zu dieser Zeit das, was man heute als Teamwork
bezeichnet. Das von Josef Braun dem Komponisten vorgelegte Libretto enthielt zwar
den vollständigen Text, in dieser Form hat Strauß die darin enthaltenen
Musiknummern aber nicht vertont. Das gesamte Textbuch zu Der Carneval in Rom wurde von Richard Genée überarbeitet, kaum eine
Seite blieb unverändert. Genées Eingriffe reichten von Umstellungen in der
Reihenfolge von Dialogen und Musiknummern über Umformulierungen einzelner
Passagen bis hin zu völlig neuen Textabschnitten. Nach Fertigstellung der
Partitur wurde das Buch dem Theater an der Wien für die Probenarbeit zur
Verfügung gestellt. Theaterdirektor Maximilian Steiner, der auch die
Inszenierung übernahm, überarbeitete nochmals einen Großteil der Dialoge, hingegen
blieben die Gesangstexte der Musiknummern von ihm unangetastet.
Ein legendäres Sängerpaar
Am 1. März 18 73 war es soweit: Johann Strauß ließ es
sich nicht nehmen, bei der Uraufführung von Der
Carneval in Rom im Theater an der Wien persönlich am Dirigentenpult zu
stehen. Das Wiener Fremdenblatt berichtete: „Die musikalische Ausbeute, die ‚Indigo’
bot, war reich, die Weisen des römischen Karnevals sind bunter und
vielgestaltiger. Allerliebst hat es Herr Strauß verstanden, das sentimentale
Element mit dem burschikosen zu vereinigen, beides gegen- und wechselseitig zu durchdringen.“
Maximilian Steiner hatte zudem an der Aufführung nicht gespart. Es wurden
durchwegs neue Dekorationen und Kostüme angefertigt – was damals nicht immer
selbstverständlich war –, ebenso bewegte sich die Sängerbesetzung mit Marie
Geistinger und Albin Swoboda, zwei inzwischen legendäre Stars der Wiener
Theaterszene, auf hohem Niveau. Für die Partie der Gräfin Falconi hatte Strauß
auf der Sängerin Caroline Charles-Hirsch bestanden, nachdem er sie am Deutschen
Theater in Budapest gehört hatte, und für sie im letzten Moment noch eine zusätzliche
Koloraturarie komponiert. Die eigentliche Sensation der Premiere waren aber
Statisten, die mit einer neuen Erfindung zum allerersten Mal über eine Wiener
Bühne fuhren – dem Fahrrad. Nur mit der Ballettmusik wurde Strauß nicht
rechtzeitig fertig. Deshalb erklang zu den Tanzszenen unter anderem Musik aus
der zwei Jahre zuvor in Wien gespielten Operette Die Ente mit den drei Schnäbeln des Pariser Komponisten Emile
Jonas. Die originale Ballettmusik fand erst einen Monat später in den
Bühnenaufführungen Berücksichtigung, nachdem der jüngere Strauß-Bruder Eduard
sie bei einem Konzert im Wiener Musikverein am 25. März 18 73 erstmals präsentiert hatte.
Erotische Reize
Geboten wurde im Theater an der
Wien eine jener typischen Verwechslungskomödien, die ihre Konflikte aus
falschen Identitäten speisten. In Der Carneval in Rom ist es Marie, die nach Italien
gereist ist, um dort den Maler Arthur zu suchen, und sich als junger Mann
ausgibt. Strauß und seine Mitarbeiter Steiner und Genée wendeten diesen dramaturgischen
Kunstgriff bewusst an, um dadurch männliche Zuschauer ins Theater zu locken,
denen die Schaulust wichtiger war als die Musik. Der Anblick einer als Mann
verkleideten Frau, die auf der Bühne in engen Hosen agierte, war für die
männliche Zuschauerschaft von hohem erotischem Reiz. Hinzu kam, dass Marie
alias Pepino im fünften Bild der Gräfin Falconi Avancen macht, auch diese
Situation war für viele männliche Theaterbesucher sehr anregend.
Trinklied und Tarantella
Die Musik, die Johann Strauß für
seine zweite Operette komponierte, wird trotz der in Rom spielenden Handlung nicht
durch italienische Klänge geprägt, einzig Maries Tarantella vor dem Finale des
zweiten Akts geht hier stilistisch noch am weitesten. Die Partitur lehnt sich
vielmehr an die Ästhetik der Opéra comique und der deutschen Spieloper an mit mehrstimmigen
Chören und musikalisch facettenreich aufgebauten Finalszenen sowie opernhaften
Arien und Duetten. Lyrisch ist die Musik, die Strauß für die Partie der Marie
komponierte, in den Gesängen von Arthur betont er dessen Lebensfreude, in den gemeinsamen
Duetten findet der Komponist zu innigen Tönen.
Geschickte Zweitverwertung
Bis 1880 stand Der Carneval in Rom in unregelmäßigen
Abständen auf dem Spielplan des Theaters an der Wien, brachte es aber insgesamt
nur auf 81 Aufführungen. Strauß verdiente dennoch an seiner zweiten Operette
sehr gut, denn er war äußerst talentiert, wenn es darum ging, seine Originalkompositionen
einer Zweitverwertung zuzuführen. Die aus diesem wie aus seinen anderen Bühnenwerken
gefilterten Tanz- und Konzertstücke – hinzu kamen die Ausgaben für Klavier zu
zwei und vier Händen für den Hausgebrauch – waren für Strauß eine wichtige
Einnahmequelle. Auch aus der Musik zum Carneval in Rom arrangierte er Walzer,
Polkas und Märsche für Orchester, während die entsprechenden Ausgaben für
Klavier, für Violine und Klavier sowie für Militärmusik von seinen Mitarbeitern
– oder den Militärkapellmeistern selbst – erstellt wurden. Zudem gab das
Marketing-Genie Johann Strauß den Bearbeitungen nach Melodien aus seiner zweiten
Operette Der Carneval in Rom zugkräftige
Titel wie Vom Donaustrande, eine
Polka schnell op. 356, und Gruß aus
Österreich, eine Polka Mazur op. 359, wobei der Walzer Carnevalsbilder op. 357 immerhin die Herkunft der Musik
andeutet. Und als der Wiener Operettenstar Marie Geistinger, die als Marie zum
Ensemble der Uraufführung gehörte, 1881 eine Gastspielreise in die Vereinigten
Staaten unternahm, gehörte zu ihrem Repertoire auch Der Carneval in Rom. Darin trat sie in New York im Thalia Theater
auf, das von deutschsprachigen Einwanderern besucht wurde. Es war das erste
Mal, dass eine Operette von Johann Strauß am Broadway erklang.