Emmerich Kálmán
DIE ZIRKUSPRINZESSIN
„Wird es ein Mariza-Erfolg?“,
fragte der Musikjournalist Ludwig Hirschfeld zu Beginn seiner Kritik in der
Zeitung Neue Freie Presse am Tag nach
der 1926 erfolgten Uraufführung von Emmerich Kálmáns Operette Die Zirkusprinzessin. Mit dieser berechtigten
Frage bezog er sich auf Kálmáns zwei Jahre zuvor ebenfalls in Wien begeistert
aufgenommenen Erfolgsstück Gräfin Mariza.
Jede Uraufführung war ein Risiko, ob sie den Geschmack des Publikums nun traf
oder nicht. Die damaligen Wiener Operettentheater waren nicht subventioniert
und Beispiele gibt es reichlich, wo die Hoffnungen sich nach der Premiere nicht
erfüllten, die der Komponist, die Librettisten und die Künstler, aber auch die auf
die Kasseneinnahmen angewiesenen Direktoren, darauf gesetzt hatten.
Emmerich Kálmán und seine Textdichter
Julius Brammer und Alfred Grünwald verfügten allerdings über ein erprobtes
Konzept, um sich einen Erfolg zu sichern. Das bestätigte ihnen Ludwig Hirschfeld
in seiner Rezension: „Die beiden Librettisten wissen, was sie zu tun haben.
Ihnen ist die tiefe Tantiemeneinsicht gegeben, dass auf dem Theater nur der
immer wieder neue Erfolge hat, der nichts Neues bringt.“ Dementsprechend glich
der dramaturgische Aufbau der Zirkusprinzessin
dem Inhalt von Gräfin Mariza. Dort
war es der ungarische Graf Tassilo, der in Inflationsjahren, die auf den Ersten
Weltkrieg folgten, sein Vermögen verlor und sich in der ungarischen Puszta
unerkannt unter falschem Namen als Verwalter von Gräfin Marizas Gutshof sein
Geld verdient und mit ihr anbandelt. In der Zirkusprinzessin
ist es der Adlige Fedja Palinski, der in der Maskerade des Zirkusreiters Mister
X die Fürstin Fedora umwirbt.
Liebe auf den zweiten Blick
Die Handlung der Zirkusprinzessin beginnt im Foyer des
Zirkus Stanislawski in St. Petersburg im Jahr 1912. Die Hauptattraktion in der
Manege ist der stets mit einer schwarzen Gesichtsmaske auftretende Mister X,
der jeden Abend tollkühne Reit- und Sprungkunststücke vorführt. Fürstin Fedora,
deren Ehemann vor einigen Jahren verstorben ist, besucht eine Vorstellung. Was
sie nicht weiß: Ihr ehemaliger Gatte enterbte seinen Neffen Fedja Palinski und
brachte ihn auch um seine Offizierskarriere, weil dieser sich in Fedora
verliebte, obwohl er sie nur ein einziges Mal aus der Ferne sah – und sie ihn
dadurch gar nicht kennt. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern ging Fedja als
Mister X zum Zirkus. In Fedoras Begleitung ist Prinz Sergius, der ein Auge auf
die vermögende Witwe geworfen hat. Mister X wird Fedora vorgestellt und erschrickt,
als er ihren Namen erfährt. Kurz danach teilt sie Prinz Sergius mit, dass sie niemals
seine Frau werden wird. Um sich für die Zurückweisung zu rächen, lädt Sergius
den geheimnisvollen Mister X zu einem Fest ein. Er soll sich dort als Prinz
Korrossoff ausgeben und Fedora den Hof machen. Mister X willigt ein, da er ihr auf
diese Weise nah sein kann. Im zweiten Akt lässt Prinz Sergius im Ballsaal seines
Palais Fedora einen erfundenen Befehl von allerhöchster Stelle überreichen, der
sie verpflichtet, schon morgen einen Mann zu heiraten, den der russische Zar für
sie bestimmen wird. Eine Weigerung ist ausgeschlossen. Sergius rät ihr, diesem
Befehl dadurch zuvorzukommen, dass sie sich sofort mit Fürst Korrossoff trauen
lässt. Fedora, der Prinz Korrossoff nicht gleichgültig ist, wobei sie nicht weiß,
dass er mit Mister X identisch ist, stimmt der Hochzeit zu. Die Trauung wird
vollzogen. Erst durch die als Gratulanten auftretenden Zirkusleute erfährt
Fedora, dass ihr Gatte der bekannte Zirkusreiter ist, und wird von der
ebenfalls anwesenden adligen Gesellschaft als Zirkusprinzessin verspottet.
Mister X versichert ihr zwar seine Liebe und gibt sich als Fedja Palinski zu
erkennen. Die durch den Verrat tief getroffene Fedora verlangt jedoch die
sofortige Trennung. Der dritte Akt spielt in der Empfangshalle des noblen
Hotels Erzherzog Carl in Wien. Prinz Sergius
logiert dort in der Hoffnung, dass Fedora nun die seine wird, die sich
ebenfalls in Wien aufhält, da Mister X dort gastiert und den sie nicht
vergessen kann. Das Happy End lässt nicht lange auf sich warten. Nach einer
kurzen Aussprache umarmt der glückliche Fedja Palinski seine für immer verloren
geglaubte Ehefrau Fedora. Prinz Sergius hat das Nachsehen.
Hans Moser als Pelikan
Es war nicht nur die
klischeehafte Handlung, die zum Erfolg der Uraufführung der Zirkusprinzessin im Theater an der Wien
beitrug. Auch die mitwirkenden Künstler hatten ihren Anteil daran. So übernahm
Elsie Altmann die Partie der Mabel. Sie war mit dem Wiener Architekten Adolf
Loos verheiratet, einer der Wegbereiter der modernen Architektur und seiner
Zeit oft weit voraus. Da in den Zwanzigerjahren viele seiner Entwürfe nicht
realisiert wurden, übernahm es seine Ehefrau, durch ihre Auftritte im Theater
den gemeinsamen Lebensunterhalt zu finanzieren. Als Toni Schlumberger war der
Tenorbuffo Fritz Steiner zu erleben, der einige Jahre später zum Ensemble der Uraufführung
von Paul Abrahams Operette Die Blume von
Hawaii gehörte. In der Partie des Mister X betrat der Hubert Marischka, gleichzeitig
Direktor des Theaters an der Wien, die Bühne. Er hatte bereits in der
Weltpremiere der Gräfin Mariza die
Partie des Tassilo gesungen, genoss Starruhm und in der Premierenbesprechung
der Wiener Zeitung war zu lesen:
„Seine musikalische Ausdruckskraft, seine Liebenswürdigkeit, selbstverständlich
auch seine Tanzkunst, vereinigen sich zu einem auf der Operettenbühne kaum noch
stärker zu denkenden künstlerischen Eindruck.“ Betty Fischer, die bereits als
erste Mariza Theatergeschichte geschrieben hatte, war nun Fürstin Fedora. Die Wiener Zeitung geriet über ihren
Auftritt ins Schwärmen: „Sie trägt eine Anzahl herrlicher Kostüme und Kleider –
eine Augenweide von Anmut, Grazie und Eleganz.“ Da wie in vielen Operetten der
dritte Aufzug sehr kurz war, weil es bis auf das Happy End nichts mehr zu
erzählen gab, führte erstmals Johann Strauß im Finalakt seines Erfolgsstücks Die Fledermaus den sogenannten
Dritte-Akt-Komiker ein. Dessen Aufgabe war es, die immer schütterer werdende
Handlung durch Witze und Bonmots zu bereichern. Bei Strauß übernahm das der
umtriebige Gefängniswärter Frosch, in der Zirkusprinzessin
sorgte ein Oberkellner namens Pelikan für Lacher im Publikum. Die Rolle spielte
der heute legendäre, auch bereits als Frosch gefeierte Komiker Hans Moser.
Pikant und charmant
Auch in der Musik folgte Emmerich
Kálmán der von Ludwig Hirschfeld formulierten Erfolgsstrategie „das, was wirkt
und immer wieder wirkt, was gefällt und immer wieder gefällt.“ Toni Schlumbergers
Chanson „Die kleinen Mäderln im Trikot“ sind den „Mädis vom Chantant“ aus Kálmáns
Csárdásfürstin nachgebildet, das
Auftrittslied des Mister X „Zwei Märchenaugen wie die Sterne so schön“ erinnert
auch im musikalischen Duktus an Tassilos Lied „Grüß mir die süßen, die
reizenden Frauen im schönen Wien“ aus Gräfin
Mariza. Und sowohl die Musik zum Walzerduett „Leise schwebt das Glück
vorüber“ als auch die zum Buffo-Duett „Liese, komm mit auf die Wiese“ entnahm
der Komponist den Skizzen zu seiner zuvor erfolgreichen Puszta-Operette. Auch
alles weitere war wieder die bereits in seinen anderen Operetten mehrfach erprobte
und erfolgversprechende musikalisch abwechslungsreiche Mischung aus Duetten im
Dreivierteltakt („Mein Darling muss so sein wie du“), zündenden Märschen („Mädel
gib acht, schließ dein Fenster heute Nacht“) und Kompositionen im Stil damals moderner
Tanzschlager („Wenn du mich sitzen lässt, fahr ich sofort nach Budapest“). Ludwig
Hirschfeld fasste seine Eindrücke zusammen: „Es ist wirklich nicht möglich,
alle die unbestreitbar pikant erfundenen, rhythmisch unwiderstehlich
aufgemachten Musiknummern anzuführen. In Summa: Kálmán ist gewiss im neuen Werk
auf seiner Höhe, aber auch nicht um eine Linie weitergekommen.“ Das spornte den
Komponisten an, sich musikalisch weiterzuentwickeln.
Das Resultat seiner Bemühungen
war 1928 Die Herzogin von Chicago. Darin
löste sich Kálmán vom ungarischen Kolorit seiner Musik und huldigte dem Jazz.
Der Charleston löste den Csárdás ab, das Saxophon das Zymbal. Die Handlung um
die amerikanische Supermillionärin Mary Lloyd, die sich in Europa einen echten
Prinzen kaufen möchte, spielte mit den Gegensätzen zwischen der alten und neuen
Welt, jonglierte mit Sarkasmus und Ironie, und war meilenweit entfernt von der
klischeebeladenen Lovestory zwischen einem Zirkusreiter und einer russischen
Fürstin. Das Ergebnis war ein veritabler Flop. Die Herzogin von Chicago wurde erst vor einigen Jahren als eine von
Kálmáns musikalisch wie szenisch besten Operetten wiederentdeckt, im Gegensatz
zur Zirkusprinzessin, die Ludwig
Hirschfelds Frage „Wird es ein Mariza-Erfolg?“ bereits am Abend der
Uraufführung mit Ja beantwortete. Nachdem sich am 26. März 1926 der Vorhang zur
Weltpremiere öffnete – und Kálmáns Operette somit vor wenigen Tagen ihren 90.
Geburtstag feierte –, wurde sie bis heute unzählige Male aufgeführt. Sie überzeugt
mit musikalischem Esprit, rhythmischem Elan und Schwelgen in Walzerseligkeit,
und beweist, dass Operette keine Musik zweiter Klasse bietet.