Sonntag, 3. November 2019


Emmerich Kálmán
DIE ZIRKUSPRINZESSIN




  
„Wird es ein Mariza-Erfolg?“, fragte der Musikjournalist Ludwig Hirschfeld zu Beginn seiner Kritik in der Zeitung Neue Freie Presse am Tag nach der 1926 erfolgten Uraufführung von Emmerich Kálmáns Operette Die Zirkusprinzessin. Mit dieser berechtigten Frage bezog er sich auf Kálmáns zwei Jahre zuvor ebenfalls in Wien begeistert aufgenommenen Erfolgsstück Gräfin Mariza. Jede Uraufführung war ein Risiko, ob sie den Geschmack des Publikums nun traf oder nicht. Die damaligen Wiener Operettentheater waren nicht subventioniert und Beispiele gibt es reichlich, wo die Hoffnungen sich nach der Premiere nicht erfüllten, die der Komponist, die Librettisten und die Künstler, aber auch die auf die Kasseneinnahmen angewiesenen Direktoren, darauf gesetzt hatten.
Emmerich Kálmán und seine Textdichter Julius Brammer und Alfred Grünwald verfügten allerdings über ein erprobtes Konzept, um sich einen Erfolg zu sichern. Das bestätigte ihnen Ludwig Hirschfeld in seiner Rezension: „Die beiden Librettisten wissen, was sie zu tun haben. Ihnen ist die tiefe Tantiemeneinsicht gegeben, dass auf dem Theater nur der immer wieder neue Erfolge hat, der nichts Neues bringt.“ Dementsprechend glich der dramaturgische Aufbau der Zirkusprinzessin dem Inhalt von Gräfin Mariza. Dort war es der ungarische Graf Tassilo, der in Inflationsjahren, die auf den Ersten Weltkrieg folgten, sein Vermögen verlor und sich in der ungarischen Puszta unerkannt unter falschem Namen als Verwalter von Gräfin Marizas Gutshof sein Geld verdient und mit ihr anbandelt. In der Zirkusprinzessin ist es der Adlige Fedja Palinski, der in der Maskerade des Zirkusreiters Mister X die Fürstin Fedora umwirbt.

Liebe auf den zweiten Blick

Die Handlung der Zirkusprinzessin beginnt im Foyer des Zirkus Stanislawski in St. Petersburg im Jahr 1912. Die Hauptattraktion in der Manege ist der stets mit einer schwarzen Gesichtsmaske auftretende Mister X, der jeden Abend tollkühne Reit- und Sprungkunststücke vorführt. Fürstin Fedora, deren Ehemann vor einigen Jahren verstorben ist, besucht eine Vorstellung. Was sie nicht weiß: Ihr ehemaliger Gatte enterbte seinen Neffen Fedja Palinski und brachte ihn auch um seine Offizierskarriere, weil dieser sich in Fedora verliebte, obwohl er sie nur ein einziges Mal aus der Ferne sah – und sie ihn dadurch gar nicht kennt. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern ging Fedja als Mister X zum Zirkus. In Fedoras Begleitung ist Prinz Sergius, der ein Auge auf die vermögende Witwe geworfen hat. Mister X wird Fedora vorgestellt und erschrickt, als er ihren Namen erfährt. Kurz danach teilt sie Prinz Sergius mit, dass sie niemals seine Frau werden wird. Um sich für die Zurückweisung zu rächen, lädt Sergius den geheimnisvollen Mister X zu einem Fest ein. Er soll sich dort als Prinz Korrossoff ausgeben und Fedora den Hof machen. Mister X willigt ein, da er ihr auf diese Weise nah sein kann. Im zweiten Akt lässt Prinz Sergius im Ballsaal seines Palais Fedora einen erfundenen Befehl von allerhöchster Stelle überreichen, der sie verpflichtet, schon morgen einen Mann zu heiraten, den der russische Zar für sie bestimmen wird. Eine Weigerung ist ausgeschlossen. Sergius rät ihr, diesem Befehl dadurch zuvorzukommen, dass sie sich sofort mit Fürst Korrossoff trauen lässt. Fedora, der Prinz Korrossoff nicht gleichgültig ist, wobei sie nicht weiß, dass er mit Mister X identisch ist, stimmt der Hochzeit zu. Die Trauung wird vollzogen. Erst durch die als Gratulanten auftretenden Zirkusleute erfährt Fedora, dass ihr Gatte der bekannte Zirkusreiter ist, und wird von der ebenfalls anwesenden adligen Gesellschaft als Zirkusprinzessin verspottet. Mister X versichert ihr zwar seine Liebe und gibt sich als Fedja Palinski zu erkennen. Die durch den Verrat tief getroffene Fedora verlangt jedoch die sofortige Trennung. Der dritte Akt spielt in der Empfangshalle des noblen Hotels Erzherzog Carl in Wien. Prinz Sergius logiert dort in der Hoffnung, dass Fedora nun die seine wird, die sich ebenfalls in Wien aufhält, da Mister X dort gastiert und den sie nicht vergessen kann. Das Happy End lässt nicht lange auf sich warten. Nach einer kurzen Aussprache umarmt der glückliche Fedja Palinski seine für immer verloren geglaubte Ehefrau Fedora. Prinz Sergius hat das Nachsehen.

Hans Moser als Pelikan

Es war nicht nur die klischeehafte Handlung, die zum Erfolg der Uraufführung der Zirkusprinzessin im Theater an der Wien beitrug. Auch die mitwirkenden Künstler hatten ihren Anteil daran. So übernahm Elsie Altmann die Partie der Mabel. Sie war mit dem Wiener Architekten Adolf Loos verheiratet, einer der Wegbereiter der modernen Architektur und seiner Zeit oft weit voraus. Da in den Zwanzigerjahren viele seiner Entwürfe nicht realisiert wurden, übernahm es seine Ehefrau, durch ihre Auftritte im Theater den gemeinsamen Lebensunterhalt zu finanzieren. Als Toni Schlumberger war der Tenorbuffo Fritz Steiner zu erleben, der einige Jahre später zum Ensemble der Uraufführung von Paul Abrahams Operette Die Blume von Hawaii gehörte. In der Partie des Mister X betrat der Hubert Marischka, gleichzeitig Direktor des Theaters an der Wien, die Bühne. Er hatte bereits in der Weltpremiere der Gräfin Mariza die Partie des Tassilo gesungen, genoss Starruhm und in der Premierenbesprechung der Wiener Zeitung war zu lesen: „Seine musikalische Ausdruckskraft, seine Liebenswürdigkeit, selbstverständlich auch seine Tanzkunst, vereinigen sich zu einem auf der Operettenbühne kaum noch stärker zu denkenden künstlerischen Eindruck.“ Betty Fischer, die bereits als erste Mariza Theatergeschichte geschrieben hatte, war nun Fürstin Fedora. Die Wiener Zeitung geriet über ihren Auftritt ins Schwärmen: „Sie trägt eine Anzahl herrlicher Kostüme und Kleider – eine Augenweide von Anmut, Grazie und Eleganz.“ Da wie in vielen Operetten der dritte Aufzug sehr kurz war, weil es bis auf das Happy End nichts mehr zu erzählen gab, führte erstmals Johann Strauß im Finalakt seines Erfolgsstücks Die Fledermaus den sogenannten Dritte-Akt-Komiker ein. Dessen Aufgabe war es, die immer schütterer werdende Handlung durch Witze und Bonmots zu bereichern. Bei Strauß übernahm das der umtriebige Gefängniswärter Frosch, in der Zirkusprinzessin sorgte ein Oberkellner namens Pelikan für Lacher im Publikum. Die Rolle spielte der heute legendäre, auch bereits als Frosch gefeierte Komiker Hans Moser.

Pikant und charmant

Auch in der Musik folgte Emmerich Kálmán der von Ludwig Hirschfeld formulierten Erfolgsstrategie „das, was wirkt und immer wieder wirkt, was gefällt und immer wieder gefällt.“ Toni Schlumbergers Chanson „Die kleinen Mäderln im Trikot“ sind den „Mädis vom Chantant“ aus Kálmáns Csárdásfürstin nachgebildet, das Auftrittslied des Mister X „Zwei Märchenaugen wie die Sterne so schön“ erinnert auch im musikalischen Duktus an Tassilos Lied „Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen im schönen Wien“ aus Gräfin Mariza. Und sowohl die Musik zum Walzerduett „Leise schwebt das Glück vorüber“ als auch die zum Buffo-Duett „Liese, komm mit auf die Wiese“ entnahm der Komponist den Skizzen zu seiner zuvor erfolgreichen Puszta-Operette. Auch alles weitere war wieder die bereits in seinen anderen Operetten mehrfach erprobte und erfolgversprechende musikalisch abwechslungsreiche Mischung aus Duetten im Dreivierteltakt („Mein Darling muss so sein wie du“), zündenden Märschen („Mädel gib acht, schließ dein Fenster heute Nacht“) und Kompositionen im Stil damals moderner Tanzschlager („Wenn du mich sitzen lässt, fahr ich sofort nach Budapest“). Ludwig Hirschfeld fasste seine Eindrücke zusammen: „Es ist wirklich nicht möglich, alle die unbestreitbar pikant erfundenen, rhythmisch unwiderstehlich aufgemachten Musiknummern anzuführen. In Summa: Kálmán ist gewiss im neuen Werk auf seiner Höhe, aber auch nicht um eine Linie weitergekommen.“ Das spornte den Komponisten an, sich musikalisch weiterzuentwickeln.
Das Resultat seiner Bemühungen war 1928 Die Herzogin von Chicago. Darin löste sich Kálmán vom ungarischen Kolorit seiner Musik und huldigte dem Jazz. Der Charleston löste den Csárdás ab, das Saxophon das Zymbal. Die Handlung um die amerikanische Supermillionärin Mary Lloyd, die sich in Europa einen echten Prinzen kaufen möchte, spielte mit den Gegensätzen zwischen der alten und neuen Welt, jonglierte mit Sarkasmus und Ironie, und war meilenweit entfernt von der klischeebeladenen Lovestory zwischen einem Zirkusreiter und einer russischen Fürstin. Das Ergebnis war ein veritabler Flop. Die Herzogin von Chicago wurde erst vor einigen Jahren als eine von Kálmáns musikalisch wie szenisch besten Operetten wiederentdeckt, im Gegensatz zur Zirkusprinzessin, die Ludwig Hirschfelds Frage „Wird es ein Mariza-Erfolg?“ bereits am Abend der Uraufführung mit Ja beantwortete. Nachdem sich am 26. März 1926 der Vorhang zur Weltpremiere öffnete – und Kálmáns Operette somit vor wenigen Tagen ihren 90. Geburtstag feierte –, wurde sie bis heute unzählige Male aufgeführt. Sie überzeugt mit musikalischem Esprit, rhythmischem Elan und Schwelgen in Walzerseligkeit, und beweist, dass Operette keine Musik zweiter Klasse bietet.