Die Uraufführung der Operette „Boccaccio“ in Wien am
Komponist mit accent aigue
Franz von Suppé wurde am
Mit Jules Verne um die Welt
Als Kind bekam Suppé Flötenunterricht und studierte Komposition beim Chordirektor der Kathedrale von Spalato. Mit vierzehn Jahren schrieb er eine Missa dalmatica. Trotz seines großen musikalischen Talents beschloss der Vater, dass sein Sohn Rechtsanwalt werden sollte. Nach dessen Tod brach Suppé das Jurastudium ab und siedelte mit der Mutter 1835 nach Wien über. Nach einer musikalischen Ausbildung bei Simon Sechter wurde Suppé mit 21 Jahren als Kapellmeister an das Wiener Theater in der Josefstadt berufen. 1841 wurde sein erstes Singspiel Jung lustig, im Alter traurig uraufgeführt. 1845 wechselte Suppé als Kapellmeister an das Theater an der Wien, wo er eine Fülle von einaktigen Singspielen komponierte. Die Erfolge von Offenbachs abendfüllenden Operetten ermutigten Franz von Suppé, es ebenfalls mit abendfüllenden Dreiaktern zu versuchen: „Fatinitza“ und „Banditenstreiche“ wurden von allen Theatern nachgespielt. Bis zu seinem Tod in Wien am
Ein Giovanni aus der Renaissance
Das Textbuch zu „Boccaccio“ verfassten die Librettisten Friedrich Zell und Richard Genée. Im Mittelpunkt der Handlung steht Giovanni Boccaccio (1313-1375), italienischer Schriftsteller und bedeutender Vertreter des Humanismus. Suppé fand Gefallen an dem Stoff und sah darüber hinweg, dass in der Handlung Bücher verkauft wurden; der Buchdruck wurde erst 100 Jahre später erfunden. Historisch verbürgt und in das Libretto eingebunden ist hingegen Boccaccios Liebe zu Fiametta, die Tochter des neapolitanischen Königs Robert von Anjou. Andere biografische Details stimmen nicht: Die Operette spielt 1331 und zeigt den Dichter Boccaccio im Alter von 18 Jahren. Im wirklichen Leben hielt sich Boccaccio im diesem Jahr nicht in Florenz auf. Er war bereits 1327 im Alter von vierzehn Jahren von seinen Eltern nach Neapel zur kaufmännischen Lehre in einer Bank geschickt worden und kehrte erst 1340 mit 27 Jahren nach Florenz zurück. Boccaccio ging in den Staatsdienst und trat 1360 in den geistlichen Stand ein. Davon wird in der Operette nicht berichtet, aber Suppé wollte auch keine Biographie vertonen, sondern ein Bühnenwerk komponieren, das von Boccaccios Meisterwerk „Das Decamerone“ inspiriert war.
Eine flatterhafte Gesellschaft
In seiner Sammlung von Novellen, die um 1350 entstanden, porträtierte Giovanni Boccaccio mit bis dahin unbekanntem Realismus die facettenreiche florentinische Gesellschaft des 14. Jahrhunderts. Zehn junge Leute beiderlei Geschlechts sind während der Pest 1348 aus Florenz aufs Land geflüchtet. Sie erzählen sich an zehn Tagen jeweils zehn Geschichten. Es entsteht eine große Vielfalt von feinen und derben, tragischen und komischen Novellen. Von diesen 100 Geschichten hat Boccaccio nur die allerwenigsten erfunden. Die Stoffe stammen aus arabischen, indischen, persischen, altfranzösischen und sonstigen Quellen; die Schauplätze umfassen nahezu die gesamte damals bekannte Welt. Das Besondere an Boccaccios Novellen ist ihr neuer Geist: In den Erzählungen der jungen Leute, die dem irdischen Leben zugewandt sind, überwinden die aus Daseinsfreude und eigener Entscheidung handelnden Personen das Mittelalter mit seinen moralischen und religiösen Schranken.
Tollpatschige Ehemänner
Das in der Szenenfolge abwechslungsreich gebaute Libretto zu „Boccaccio“ ist keine Vertonung von Novellen aus dem Decamerone; einzelne Motive werden im Textbuch lediglich als situationskomische Elemente in die Handlung eingefügt. Vordergründig geht es in Suppés Operette um Liebesaffären im Florenz der Renaissance; zwischen den Zeilen gelesen wird Kritik an der herrschenden Moral des ausklingenden 19. Jahrhunderts deutlich, in der Männer für sich eine erotische Libertinage in Anspruch nahmen, die sie ihren Frauen versagten. Die damalige Gesellschaftsordnung in Wien um 1880, in der die Männer das Sagen hatten, wird in „Boccaccio“ quasi auf den Kopf gestellt. In Suppés Operette werden die Ehemänner als dümmliche Tollpatsche gezeigt, ihre Ehefrauen verweigern sich den Zwängen veralteter Normen und zeigen sich an einem Seitensprung interessiert. In ihren Duetten und Terzetten besingen die Frauen im Dreivierteltakt die prickelnde Vorfreude auf ein außereheliches Rendezvous; die sauertöpfische Musik der Ehemänner bewegt sich in der biederen Sphäre des traditionellen Wiener Volkstheaters.
Erotische Gefühle
Die Partie des Boccaccio wurde von den Librettisten als Hosenrolle konzipiert. In den Operettenaufführungen von Franz von Suppé waren die Rocksäume immer weiter in die Höhe gerutscht und zeigten den männlichen Zuschauern das, was im Alltag verborgen blieb: Damenbeine. Um der Sittlichkeit zu genügen, maskierte man sie im Theater mit eng anliegenden Strumpfhosen. Doch auch diese verhüllte Form war dazu angetan, erotische Gefühle zu erwecken. Wenn die Sängerin Antonie Link in der Hosenrolle des Boccaccio zarte Küsse mit den anderen Damen austauschte, eröffnete sich dem Publikum ein weiteres Spektrum erotischer Möglichkeiten, das im Alltag tabuisiert war. Das Publikum nahm Suppés Operette begeistert auf. Die Kritik rühmte den kunstvollen Bau seiner Arien und Duette und die dramatische Spannkraft der Ensembleszenen. In seiner Musik verband Suppé die Klangreize des italienischen Belcantos geschickt mit dem Wiener Walzer- und Marschmilieu.
Eine Aufführung in Athen
Wenige Monate nach der Wiener Uraufführung wurde „Boccaccio“ in Berlin gespielt, es folgten Inszenierungen in London, Paris und New York. Zwischen dem 15. Februar und
Karrierestart in einer Wiener Operette
Eine talentierte Nachwuchssängerin, die bei Schülerkonzerten des Athener Konservatoriums aufgefallen war, wurde als Zweitbesetzung für die Beatrice engagiert. Ihre Lehrerin Elvira de Hidalgo hatte ihrer erst siebzehnjährigen Schülerin den Vertrag vermittelt, damit sie Bühnenerfahrung sammeln konnte. Während der Proben erkrankte die Erstbesetzung Nafsika Galanou und wurde durch die Gesangsschülerin Maria Kaloyeropoulou ersetzt, die als Beatrice ihr offizielles Bühnendebüt gab. Auf einem Photo der Premiere wirkt die junge Sängerin beim Verbeugen im Kreis ihrer Kollegen glücklich und mit sich zufrieden. Nach der Aufführung schrieb ihre Lehrerin Elvira de Hidalgo, die als Sopranistin an der Mailänder Scala erfolgreich gewesen war, an ihre Schülerin: „Obwohl ich als gute Künstlerin angesehen wurde und die größten Künstler erlebt habe, spürte ich sofort, dass du etwas Besonderes und Unverwechselbares in dir trägst!“ Elvira Hidalgo hatte sich nicht geirrt. Die Athener Beatrice des Jahres 1941 wurde unter dem Namen Maria Callas zum Weltstar. Als die Sopranistin viele Jahre später zu den Erinnerungen an ihr Bühnendebüt befragt wurde, das in der Operette „Boccaccio“ von Franz von Suppé stattfand, sagte Maria Callas kurz und knapp: „Sie brauchten eine Beatrice und sie nahmen mich.“